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»Dann aber … wissen Sie, dass meine Schwester nach dem Tod unserer Mutter einen unbändigen Hass auf meinen Vater entwickelte? Dass sie ihm geradezu vorwarf, an ihrem Tod schuld zu sein? Was war dann ich? Ein Unfall? Ein Unglücksrabe? Ein Sendbote des Unheils? Meine Schwester ist wie ein Komet in die Welt hinaus gerast und in ihr verschwunden, so dass ich, älter und gewitzter geworden, sie nicht mehr befragen konnte. Zu meinem eigenen Erstaunen habe ich stets eine lebhafte Abneigung gegen die Familie meiner Mutter, ihre Schwestern, Nichten und Neffen empfunden, eine physiologische Abneigung, die zu überwinden mir nie gelang. Das kann etwas bedeuten, muss es natürlich nicht. Andererseits fühle ich mich angesichts des Zustandes, im dem ich mich befinde, nicht in der Lage, vorsichtig auf der Stelle zu treten. In dem Moment, in dem mir der Vorzeichenwechsel gelingen sollte: gute Mutter/böse Mutter, sollte sich von selbst die Reihe komplettieren, die dem Kampf der Dämonen, wie Sie ihn freundlich bezeichnet haben, einen zwar nicht guten, aber doch halbwegs entzifferbaren Sinn unterlegen würde. Wie ich das meine? Das abgelehnte Kind nimmt aus der ersten Kindheit nur den halbierten Glücksfond in die zweite mit und erfährt die Verwandlung des geliebten Vaters in einen Quälgeist, wenn nicht ein Ungeheuer, auf diese Weise vollkommen ungebremst, im freien Fall sozusagen. Erst dadurch kann die Bestrafungsfalle vollständig zuschlagen. Eine Welt voll sinnloser Schikanen, umstellt von fürchterlichen, dabei unverständlichen Drohungen und in Gang gehalten durch eine undurchsichtige, extrem schmerzhafte und vor allem demütigende Strafpraxis, wird zum Trainingsfeld für das Sozialverhalten eines jungen Menschen, der sich die Welt nach diesem Muster erschließt, obwohl er sich für einen Entronnenen hält.
Sehen Sie, ich bin ein Mann der Freiheit. Mein Sensorium verbietet es mir, ruhig zu bleiben, wenn neben mir ein Anschlag auf die Freiheit eines Mitmenschen, und sei es nur eine Beeinträchtigung der minderen Art, verübt wird. Da pocht nicht bloß das Herz etwas lebhafter, sondern der ganze von mir geschilderte Apparat setzt sich umgehend in Bewegung. Eine von Medien austapezierte Lügenwelt, in der unabhängige Wissenschaftler von einer Sekunde zur anderen ausgeknipst werden, weil sie darauf hinweisen, dass die Fakten eine andere Sprache sprechen als die gewünschte, eine solche Welt, in der sich eine möglicherweise naive, möglicherweise nur durchtriebene Person auf die Seite der Lüge schlägt, aus Machtdrang, aus was auch immer, ausgestattet mit der Vollmacht, kulturell gebotene Distanzen zu unterschreiten, um in das Leben der Einzelnen hineinzuregieren und zu ‑pfuschen, eine solche Welt bedeutet für mich die perfekte Wiederauferstehung der Welt meiner zweiten Kindheit. Aber was heißt schon ›für mich‹? In diesem Fall bin ich nur der Sensor, ein unglücklicher überdies, der zur Selbstzerstörung neigt, wo er nur anzeigen sollte.
Die Menschen, sagen Sie, nehmen das anders wahr? Wo sehen Sie Menschen? Sagen Sie mir, wo sehen Sie Menschen? Ängstliche sehe ich, Eingeschüchterte, Indoktrinierte, mit Lügen angefüllte, aggressionsbereite Fanatiker, Leute, die das Offensichtliche leugnen und denen die Dummheit aus den Augen trieft, Parteibonzen, Vorteilsnehmer, Wissenschaftler, die offenbar vergessen haben, dass die Wahrheit einer Aussage mit der Richtigkeit der Prämissen steht und fällt, Mütchenkühler, Denunzianten, Quertreiber, Abhängige, von was auch immer, aber Menschen? Lassen wir das, es ist ein großes Thema und führt uns hier nicht weiter. Es bleibt der Mechanismus der Selbstzerstörung. Und es ist wahr, das Problem, das er aufwirft, muss ich lösen und zwar hier und jetzt. Und wenn ich es mir recht überlege, bin ich, angeregt durch das Gespräch mit Ihnen, gerade auf gutem Wege. Der Schlüssel liegt nicht bei Nummer zwei oder drei, sondern bei Nummer eins. Solange ich der aus meinem Gedächtnis entflohenen toten Mutter goldene Kränze flechte, solange ich sie blind als gute Mutter in mir trage, so lange bleibt mir der Zugang zu dem skizzierten Lebensproblem verschlossen. Das ist so. Ich habe die Dinge lange genug so angesehen und weiß Bescheid. Fasse ich den Mut, der bösen Mutter ins Auge zu sehen, der Mutter, deren Leben ich durch meine Ankunft zerstört habe, dann sieht die Sache anders aus. Eine Person, die so empfindet, sollte nicht Mittel und Wege gefunden haben, mich zu markieren? Mir das Bewusstsein einzuträufeln – kindgerecht, wie denn sonst –, schuld zu sein an ihrer Misere, an der Ausweglosigkeit ihrer Existenz, wenn man den Tod einmal als Ausweg beiseite lässt? Das ist schwer vorstellbar. Und wenn nicht sie, dann meine Schwester, ihre getreue Agentin, denn sie sollte bei alledem nicht aus den Augen gelassen werden.
Wenn ich aber seit meiner frühen Kindheit diese Urschuld, da zu sein, mit mir herumtrage, ein Muttermörder, ein Krebsauslöser, dann war auch bereits der Garten, die erste Hölle, ein Steigerungsphänomen, untergründig gespeist von einem Schuldkomplex, der nur darauf wartete, eine konkrete Gestalt anzunehmen, während ein paar Unterteufel Gelegenheit bekamen, den Vater, diesen Leuchtturm meines bisherigen Daseins, in einen Rächer umzudressieren, scheinbar ein willenloses Werkzeug für ihre sadistischen Impulse, in Wahrheit jedoch mich gnadenlos für meine Schuld am Tod meiner Mutter zur Rechenschaft ziehend, ohne dass dies jemals die Schwelle der Wörter passierte. Nein, das ist jetzt nicht übertrieben, sondern liegt auf der geraden Linie des bisher Gesagten und deshalb muss es auch so gesagt werden. Wenn meine Schwester ihm vorwarf, am Tod unserer Mutter schuld zu sein, dann war es für ihn nur logisch, der wirklichen Ursache der fatalen Lebenswendung, also mir, die Verantwortung für das Geschehene aufzubürden, mag sein, zutiefst unbewusst, aber die Tiefe des Unbewussten ist bekanntlich eine Pfütze. Das ließe auch den lebenslangen Zug erklärlich erscheinen, mich, wann immer sich Gelegenheit bot, in eine Art Null zu verwandeln. Wenn es gelang, mich durch irgendeinen magischen Trick wegzuzaubern, dann löste sich das Schuldpanorama der Vergangenheit in Rauch auf und er hatte seinen Seelenfrieden gefunden.
Wissen Sie, dass mein Vater es passend fand, meinen Geburtstag in seinen Sterbetag umzuwidmen? Woher auch, wir kennen uns ja gar nicht. Er schleppte sich förmlich in die ersten Stunden hinein, bevor er das Zeitliche segnete. Vor dem Segen stand aber etwas anderes, ein geisterhaftes Schattenboxen zwischen ihm und mir, der ich an diesem Tag weit weg weilte, ein Duell über große Distanz, so als wollte er mich voranschicken oder mit sich hinüberschleppen, jedenfalls ein letztes Mal annullieren. Ich verstand die Botschaft – du oder ich. Vielleicht … vielleicht sollte ich ihn da ja auch retten. In der menschlichen Psyche liegen diese Optionen nicht sehr weit auseinander. Längst war der Entzug zwischen uns wechselseitig geworden.«
»Aber das hieße doch, sie wären für ihn eine Art Vehikel seines Lebenswillens geworden.«
»Nennen Sie es Vehikel, nennen Sie es den Esel, der den Karren aus dem Dreck ziehen soll, eines ist klar: Mein Leben steht im Zeichen sich kreuzweise überspannender Linien, deren Knotenpunkte den Tod bedeuten. Nennen Sie mich, angesichts der Tatsache, dass ich lebe, ein Genie der Schuld. Das klänge doch wenigstens einmal positiv im Sinne jenes ›Think positive!‹, das in meiner Jugend von – gefühlt! – Millionen von Buttons grinste. Vielleicht wäre es besser, mich ein Genie im Begleichen von Schuld zu nennen, die nie existierte, aber dann regen sich alle protestantischen Streiter: Schwamm drüber. Also lassen wir die Sache mit dem Genie. Heute kommt es mir vor, als ginge es erneut, rein physisch, ums Überleben. Das ist Leuten, die ihr Seuchenläppchen so behende schwingen wie einst Karajan seinen Taktstock, nur schwer zu vermitteln. Aber wer spricht vom Vermitteln? Ich kann, was ich gerade auszusprechen imstande war, weil es den Abschluss einer logischen Kette bildete, nicht einmal mir selbst vermitteln, meiner Psyche, wenn Sie so wollen, denn dort steht unverrückbar geschrieben: ›Gute Mutter!‹ Die gute Mutter, obzwar nicht auffindbar, hat mich ein Leben lang begleitet. Keinen Schritt habe ich ohne sie getan. Immer habe ich darauf gewartet, dass sie ihren angestammten Platz in meinem Gedächtnis einnimmt, dass sie zurückkehrt aus der Verbannung, die ihr von irgendwelchen finsteren Machthabern auferlegt wurde, und dass dieser Tag ein Tag der Freuden sein würde, der gefundenen Übereinstimmung mit mir selbst. Der Gedanke, meine Mutter könne speziell meinem Gedächtnis entflohen sein, mit mir als Fluchthelfer, so wie sie zuvor dem ihr von mir auferlegten Leben in die tödliche Krankheit entflohen war, sie könne ihr Bild entfernt haben, so wie ihre Tochter sich auf Nimmerwiedersehen aus der Familie entfernt hat, erscheint mir vorerst nicht lebbar. Er ist jetzt in der Welt, was ihm dort blüht, weiß keiner, vor allem, weil Gewissheit ohnehin nicht zu erlangen ist. Aber vielleicht unterschätze ich die Kraft der Interpretationen, die das Leben zuunterst aus der Schublade kramt, sobald es ihrer bedarf.«