Siegmar Faust

Unter dieser Frage kann ich mir nichts Gutes vorstellen. Das Beiwort ›zeitgenössisch‹ assoziiert in mir den stets modern sein wollenden Zeitgeist und das genössische Gedusel debiler Partei-Genossen.

Mich interessiert deshalb nur die Frage: Was ist unter Lyrik zu verstehen?

Die Literaturgattung Lyrik ist hinsichtlich Inhaltes und Form äußerst vielgestaltig. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tritt immer mehr die Form zu ungunsten des Inhalts in den Vordergrund, bis die Form, parallel zur abstrakten Malerei und nach dem Vorbild der Musik, selber zur Aussage wird und im Nonsensgedicht, der puren Lautmalerei oder im Ungefähren der konkreten Poesie enden oder sich vollenden kann. Abgesehen von dieser Avantgarde bleiben aber aus allen Jahrhunderten Einzelformen der Lyrik in Gebrauch, die unter verschiedenen Aspekten als alkäische, asklepiadeische, sapphische oder als Volkslied-Strophen bis hin zu anderen Katastrophen, Balladen, Romanzen oder Einzelaspekten der Lyrik gelten wie zum Beispiel: Akrosticha, Bildreihengedicht, Chanson, Clerihew, Distichon, Dithyrambos, Dinggedicht, Elegie, Elfchen, Epigramm, Figurengedicht, Gelegenheitsgedicht, Ghasel, Haiku, Hymne, Jambus, Lyrische Collage, Kanzone, Kinderlyrik, Klapphornvers, Lautgedicht, Leberreime, Lied, Limerick, Madrigal, Makkaronische Dichtung, Meistersang, Minnesang, Naturlyrik, Nonarime, Ode, Prosagedicht, Rap, Rollengedicht, Rondeau, Ritornell, Senryu, Sestine, Siziliane, Sonett, Stadtlyrik, Stanze, Terzine, Unsinnsgedicht, Wirtinnenvers. Und was sonst noch in kein Schema passen will, sollte der Moderne, Postmoderne bis hin zur Postpostpostmoderne zugeordnet werden.

Und wie sich Dichtung auch immer äußern mag: ständig wechseln sowohl die Moden als auch die Lautstärken von Poesie und deren Preisträger. Nur der Zeitgenosse bleibt oft ratlos und fragt mit Hölderlin: »…und wozu Dichter in dürftiger Zeit?« Eine gute Frage. Aber viele Lyriker schmieden die Sprache zu Instrumenten um, mit denen sie laut tönen, ohne durch die Klangdominante die Bedeutung eines Sinn-Gehaltes steigern zu wollen oder zu können.

Ernst zu nehmende Dichtung ist vor allem Selbstverständigung, gewissermaßen Ausdruckssuche als Identitätssuche; und wo es um diese geht, dürfte es keine Kompromisse geben mit der Sprache der Macht, des Befehlens, der Konsumwerbung oder der Agitation. Gern dürfen sich mir lyrische Sprachgebilde der Mitteilung entziehen, wenn sie musikalische Kraftfelder erzeugen oder magische Formeln, die so rätselhaft sind wie der Sinn des Daseins überhaupt. Nur die Flucht in Utopien verdirbt mir die Laune, da ich mir keine Ausmalungen einer idealen Welt mehr bieten lassen möchte. Selbst Chiffren schillernder Bedeutung steigern die Wahrnehmungskräfte, auf die es ankommt, wenn ich mich gegen die immer zu bedauernde Realität der Warte und Wärter von Gewesenheit wehre, die als Blockwarte, Gerätewarte, Hauswarte, Jugendwarte, Luftschutzwarte, Platzwarte, Tankwarte, Torwarte, Waffenwarte oder Zuchthauswärter in meine Gegen-Wart zu dringen suchen.

So verdüstert heimliches Unheil die Wirklichkeit, die sich ein Dichter neu zu erfinden wünscht. »Unheil als Unheil«, so Martin Heidegger, »spurt uns das Heile. Heiles erwinkt rufend das Heilige. Heiliges bindet das Göttliche. Göttliches nähert den Gott.« Sind also begnadete Seher und Sänger des Heilen »Dichter in dürftiger Zeit«?

Alles, was den Zeitgenossen in seinen Anspruch nimmt, entlässt ihn in die Hoffnung auf Wahrhaftigkeit. Dennoch lügt der provozierte Dichter das Blaue vom Himmel, weil ihm das Wesentliche der Poesie frag-würdig geworden ist oder werden muss. Denn was bleibt einmal von unseren Äußerungen, die wir als verdichtete Botschaften in die Ewigkeit zu senden suchen? In ihr versteckt sich oft nur des Daseins Eigentlichkeit, die seine äußerste Seinsmöglichkeit zur Sprache zu bringen trachtet, was jedoch nur selten gelingt. Das Dasein zeitgenössischer Lyrik ist seine Vergänglichkeit. Die genossene Zeit, in der ich meine Zeit wahrnahm und zum Ausdruck brachte, ist vorbei. Und was kommt, wer weiß?