Er fürchte, die Nächte vergingen und er bringe nichts zustande. Er werde säumig sterben, wie ein schlechter Angestellter, den man rausgeworfen hat, werde mit eingezogenem Hals abgehen, einen unaufgeräumten Schreibtisch und Aktenschrank hinterlassend, darin die Nachkommen sich nicht mehr auskennen. Als ob das nicht egal wäre, sagte Sonderberg. Und doch sei es nicht egal, sagte Sonderberg. So daß er hier kurz innehalten müsse, sagte Sonderberg, denn ihm scheine, daß diese auf den ersten Blick einfache Frage, ob es ihm, der dann ja nicht mehr existieren werde, egal sei, was er seinen Nachkommen hinterlasse, sich unerwartet als konfliktträchtiges Problem entpuppe. Zudem, sagte Sonderberg, halte er die Frage, in dieser Form gestellt, für falsch. Er, Sonderberg, sei der Ansicht, daß die Frage nur im gegenwärtigen Moment, nur auf den gegenwärtigen Moment bezogen, nur vom gegenwärtig existierenden Sonderberg an den ausschließlich im gegenwärtigen Moment existierenden Sonderberg gestellt werden könne, dieser Sonderberg aber – das heißt er selbst – antworte entschieden, es sei nicht egal.
Imre Kertész
Im Grunde wurde versucht, in verschiedenen Weisen (Formen) sein Leben zu schreiben. Und das geht weit über das, was herkömmlich unter «Biografie« verstanden wird, hinaus. Erschien das, sein Leben zu schreiben, in Kindheit und früher Jugend noch überschaubar, wurde es – wie (fast) jeder weiß, der es versucht und nicht versucht – irgendwannbald aussichtslos. Und doch, blieb jemand dran, ergab es so etwas wie ein Werk. Was ist ein Werk? Eine Sammlung. Ansätze, Entwürfe, Ausschreibungen. Allesamt willkürlich. Warum? Weil … eben weil aus der eigenen Wahrnehmung heraus etwas hervorgebracht wird, aus dem, was dort ausgewählt, gefunden wurde, was weiß ich – niemand weiß es –, wo jemand ansetzt, wie komplex das genaugenommen ist, wo er ansetzt, «was weiß ich«, wo der jeweils andere gerade ist, und im nächsten Moment schon ist, oder nicht mehr ist, und was sollte beides miteinander zu tun haben, was schon! Wenn ich Liebeskummer habe, was geht mich Die Suche nach der verlorenen Zeit an, was schon! Was finde ich da? Das Werk. Das literarische und seine «Formenkreise«. Jemand schrieb. Es kann treffen, es kann berühren. Es kann mich etwas angehen, es kann helfen. Es kann ganz «an mir« vorbeigeschrieben worden sein. Erkenntnis-Prozesse in Gang setzen, ein Leben verändern. Franz Kafka entschied sich bekanntlich dafür, so weit es ihm wirklich Ernst war, sein Geschriebenes verbrennen zu lassen. Damit wäre der Welt auch etwas erspart geblieben. Sowie etwas entgangen. Das gilt auch für das eigene Werk. Es gilt für jedes Werk, jede Hervorbringung. Erfindung des Handys, ein Segen? Man kann da geteilter Meinung sein. Das literarische Werk. Es war offenbar wichtig genug, zu schreiben und zu sammeln. Sich selbst darum zu kümmern, dass etwas irgendwo erscheint. Mir selbst entglitt im Alter von 22 Jahren, nach naturgemäß unsagbaren Ereignissen und dem unerschütterlichen Entschluss zu schreiben, der bis heute gilt, wenn auch nicht in derselben Weise wie einst: «Ich schreibe für Gott, den es nicht gibt.« Das wäre schön und gerecht: ein Gott, der sich all das ansähe, auswertete, wirklich und nachhaltig wertschätzte! Ein Menschheitstraum. Verwirklicht z. B. in der Idee des Jüngsten Gerichts. Wer’s glaubt, der täuscht sich. Was wollte ich mit 22, vielleicht mit 22 schon nicht mehr, aber vorher. Ich wollte gehört werden. Ich wollte, wie vielleicht jeder Mensch, ja, gesehen werden. Sieh doch, das ist mir zugestoßen, und sieh doch, ich bin ein absolut guter Mensch, und zwar in spezifischer, in sehr besonderer Weise. Wie jeder das ist, in spezifischer, in sehr besonderer Weise! Absolut gut und vertrauenswürdig, ich, nicht durchgängig, freilich: im innersten Kern. Sieh doch, wir könnten einander sehen, wenn wir uns auf den Weg machten, jeder erst einmal für sich, um sich wirklich mitzuteilen. Ich wusste seinerzeit noch wenig von der großen Enttäuschung, kaum verstanden zu werden. Kaum auf Interesse zu stoßen. Sicher, an dieser Stelle wird es oft ungerecht, zu pauschal. Auch an dieser Stelle kommt noch einmal ein Satz von Kertész in den Sinn, der in gleiche Richtung geht, zudem, unter anderem, gesellschaftspolitische Implikationen enthält: «Es ist beschämend, daß ich hier keine Aufgabe habe, daß mein Wort hier von niemand verstanden wird, daß all meine Erfahrungen, all meine Bemühungen, die das Gewand dieser Sprache tragen, vergeblich sind.« – Jedenfalls jetzt, da der Tod sich weiter nähert: Was geschieht mit all dem; dem Werk? Es scheint jeden Adressaten verloren zu haben, jedenfalls in mir selbst, und bald auch mich selbst als Adressaten. Eine unwissende Hand wird ausreichen, und welche ist schon wissend, um all das dem Papiercontainer zuzuführen! Eine ausbleibende Zahlung bei Strato oder sonst wo wird ausreichen, um die Texte im Internet abzuschalten, auszulöschen! Früher oder später. Ernüchternd? Ja. Dabei kann auch das bedacht werden: Verhängnisvoll, für sich und andere, was ein Mensch an Erwartungen aufbaute! Was noch immer an überlieferten Erwartungen im Raum steht! In den Genen ist; bereits dem Säugling, ja ständig «eingespritzt« wird. Eine Samenessenz, eine Fruchtbarmachung reichte indessen aus, um einen Menschen in die Welt zu bringen. Nicht mehr, nicht weniger, nichts anderes. Ein lustvoller Akt. Mehr oder weniger lustvoll. Bei Bewusstwerdung dieses Hintergrunds wird dann auch das Ende eines Menschen plausibler. Trost? – Auch Gräber werden abgeräumt. Die Zeiten ändern sich. Leider keine Phrase. Aber auch ohne Zeitenänderung, der neugeborene, heranwachsende, sich entwickelnde Mensch braucht das Werk nicht. Einzelne gebrauchen es dann doch, scheinen es zu brauchen. Haben aber aufzupassen, ohne sich gleich damit auszukennen; denn auch ein literarisches Werk bedarf der klugen Umgangsweisen, kann schnell schlechte Wirkungen hervorbringen. Worum ging es? Da war ein Mensch, der schrieb. Da war jemand, der etwas suchte, ja Heimat, dieses verdroschene Wort – was es alles sein kann –, sollte ich noch etwas hinzufügen?