Heute weiß ich, daß ich auch bisher Emigrant in dem Land war, in dem ich lebe und dessen Sprache ich spreche
Imre Kertész
Wie lebt es sich in diesem Land? Das «es« deutet auf allgemeine Parameter. Und: Bei allen Einflüssen und Verflechtungen, einmal nur, oder vor allem, auf Deutschland geblickt.
Es ließe sich sagen «gut«. Ich würde einstimmen und, wie jeder, verschiedene und sich unterscheidende Prioritäten benennen, die zugleich doch in irgendeiner Weise auch für alle gelten. Ich würde sagen, um nur dies zu nennen, ich schätze die Anonymität, es lässt sich mitunter gut leben, wenn man Geld hat und einem niemand auf den Nerven tanzt.
Wie sich jemand hier fühlt – und hier ist nicht hier, so verschieden allein schon geografische Gegebenheiten in einem Land –, wie es ihm geht, ist wesentlich eine Frage der Biografie. Ich stieß in diesen Tagen auf einen biografischen Abriss von Pater Ludolf Hüsing (1936-2018), den ich persönlich kennen lernen durfte und den ich schätzte und schätze, eine Biografie, die abzüglich der immer vorhandenen individuellen Unterschiede, und abzüglich des unbekannten und unbekannt bleibenden inneren Raums, in einer bestimmten Weise als prototypisch gelten kann. Ein Leben, so ließe sich, ja, viel zu kurz sagen, gewidmet den geisteswissenschaftlichen und geistlichen Studien sowie der angewandten Seelsorge einschließlich Jugendarbeit und Aufbau eines meditativen, zugleich körperbetonten, christlich orientierten Zentrums und Ortes.
Am andern Ende des Pols kann Imre Kertész (1929-2016) gesehen werden, zwar kein Deutscher, aber lange und bevorzugt in Berlin lebend und ein Leben mit Deutschland befasst gewesen. Anstelle biografischer Daten kann dieser Passus angeführt werden:
«Diejenigen, die der Nation das Selbstbewußtsein dadurch zurückgeben wollen, daß sie ihre Dummheiten und Verbrechen rechtfertigen, begehen nur weitere Dummheiten und Verbrechen. – Vergiß nie, daß sie dich hier schon als Zehnjährigen von der Schule verwiesen beziehungsweise in eine ›Judenklasse‹ versetzt haben; daß sie in den Levente-Stunden ›arische‹ Oberklässler zu ›Gruppenführern‹ bestellten, die die Kinder mit dem gelben Armband nach Lust und Laune malträtieren durften; sechzehnjährige Jungen wurden zum Morden, vierzehn- bis fünfzehnjährige Jungen zum Anstiften dazu ausgebildet, hier im Gymnasium in der Barcsay-Straße. Vergiß nicht, daß man dich durch diese Stadt geprügelt hat, am hellichten Nachmittag fand sich in den verkehrsreichen Straßen keine helfende Hand, keiner erhob die Stimme; ungarische Behörden ließen dir das Stigma an die Brust nähen, ungarische Behörden übergaben dich – deiner Staatsbürgerschaft beraubt – einer fremden Macht, zu dem Zweck, daß diese fremde Macht – Nazideutschland – dich ermorde.«
Kertész steht, bei aller Spezifik der historischen Situation, für das «Vergiss nie«, und Hüsing war dies keinesfalls fremd, schon zeitlich bedingter Einflüsse wegen. Und doch finden sich beide Biografien und Leben, bei manchen Schnittpunkten, an unterschiedlichen, entgegengesetzten Polen. Die eine Biografie erhielt und bot, trotz allem, gewisse Sicherheiten; die andere Biografie ist gekennzeichnet durch existenzielle Unsicherheiten, fehlende Gruppenanschlüsse, und die Zuordnung zu einer weltlichen Gottesgemeinschaft ist auch ein «Gruppenanschluss«, und schließlich durch radikale Selbstbestimmung.
Bei allem Auch-Spezifischen und Individuellen von Biografien und Entscheidungen können diese beiden Kriterien grundsätzlich, also auch heute und weiterhin, angelegt werden, nämlich:
Eine Biografie erhielt und bietet grundlegende Sicherheit
ODER
sie enthielt signifikant wenig und keine Sicherheit und hat in ganz anderer Weise um Sicherheit zu ringen.
Nun ist das, wovon Kertész schrieb, «aus der Welt« und zugleich: nicht aus der Welt. Und, was hier «Juden« waren und sind, waren und sind an anderer Stelle «Intellektuelle« oder wer auch jeweils «erwählt« wurde und wird: es geht um Ausgrenzung und Ausschluss. Das ist das Thema. Doch: Etwa die Rede vom Aufkommen neuer Naziformen ist unbefriedigend; selbst wenn entsprechende, zutreffende Handlungen genannt werden, rauschen sie vielfach an den Hirnen vorbei, «man« ist zu genervt von dem Kram; was sich der Mensch vor allem merken kann, ist das, was am eigenen Leib verspürt wird, und gegebenenfalls, wenn es anschaulich gemacht wird.
Ich selbst, 1963 geboren, also inmitten der Nachkriegszeit, erlebte etwas, das sich nicht als «Zufall« oder «Ausnahme« abtun ließe, nämlich, in einer maximalen Weise, die Zusammenrottung von Einzelnen zu einer übermächtigen Gruppe, die gegen einen Einzelnen vorging, um ihn zu stigmatisieren. «Rufmord«, wurde früher gesagt, vor allem das. Ob allgemein oder spezifisch die Rede ist von «Gaslighting«, «Mobbing« oder einfach «Misshandlung«, eine stattliche Zahl von Phänomenen allein in Deutschland lassen sich dem Jahr für Jahr zuordnen. Das alles rangiert, wie gesagt, unter dem «Titel« Ausgrenzung und Ausschluss. Und dies ist nur die «grobe Variante« der Angelegenheit.
So kann es aus der Perspektive des Betroffenen aussehen, nicht 1940 (z. B. bei Kertész), sondern 2020:
Durch Aufkommen von Tumult, Barbarei dergleichen, wenn dies nur irgendwo wahrgenommen wird, also ohne noch betroffen zu sein, werden sozusagen die Ordnungssysteme, die Sicherheits- und Schutzschichten desjenigen, dem eine Wunde der angedeuteten Art zugefügt wurde, aufgeknackt, in schweren Fällen so, dass nichts als die blanke, aversiv strahlende Wunde zum inneren Vorschein kommt, die dann gegebenenfalls nicht mehr anders kann, als massivst aus der Haut heraus zu strahlen.
Im Grunde ein Bild des Erbarmens, jedenfalls der «Entmenschung«.
Bedeutet:
Verhinderung von gemeinsamer Identität.
Radikale Einsamkeit.
In diesen Momenten: Nicht-Wiedererkennbarkeit.
Wie ließe sich mit einer solchen Disposition ein wirkliches Gruppengefühl aufbauen, und wo?
Es handelt sich dabei jedoch nur um eine zugespitzte Variante eines Phänomens, das viele betrifft. Eben jene «Kategorie« von Menschen, die unter Ausgrenzung und Ausschluss stehen, die bekanntlich sehr subtile Formen annehmen kann.
Aber auch die andere «Kategorie«, die mehr oder weniger Gesicherten, und auch die materiell reich vor sich hin Duselnden, haben wenigstens eine Ahnung davon, wovon hier die Rede ist.
So dürften auch diese Zeilen von Kertész, wenigstens ahnungsweise, für alle ›nachvollziehbar‹ sein:
«Wollte ich von außen definieren, ›warum ich schreibe‹ (was freilich nicht viel Sinn hätte), so würde ich sagen, um unsere Seelen zu retten und zur Flucht aus jener geistigen Fatalität zu helfen, die von der Politik, der Wirtschaft und der mit ihnen eng verknüpften Ideologie hervorgebracht wird – um zumindest für einen Augenblick heimzufinden aus Unmenschlichkeit, Fremdheit, Exil«.
Also, von hier aus und eingedenk allem, noch einmal zu der Frage, wie es sich hier lebt?
Antwort:
Zwei Klassen oder Kategorien, bei allen Mischformen, gerahmt von einer Ladenwelt:
Die sich (mehr oder weniger) wohlfühlende
UND
die von Ausgrenzung und Ausschluss betroffene.
Es mag jedem überlassen sein, inwieweit er das Feld, soweit es überhaupt entsteht, zwischen den beiden – strukturell und personal – als echt, in dem Sinn, menschlich erlebt und sieht.