N.N.

Gerhard Bauer / Ulrich Schödlbauer

Berlin, den 28. November 2009

 

Lieber Herr Schödlbauer,

der schönste, tiefgreifendste, aufrüttelndste Text in Ihrem Band der unterschiedlichsten Bemühungen um die Enden der Kunst ist der, in dem Sie nach dem Ungeschriebenen fahnden. Er ist so wirksam, weil er der seit Menschengedenken ungelösten Spannung zwischen Sein und Nichts überhaupt eine Kante abgewinnt, an der sich etwas bewegt, etwas Bedeutsames, für die Intellektuellenzunft schlechterdings Ausschlaggebendes. In der Suche nach dem, was sich fassen und sich schreiben lässt, stößt der hiesig-anwesende und energische Mensch immer wieder auf etwas, das nicht ist, das sich seinen Anstrengungen entzieht, selbst wenn sie erfolgreich sind. Das nicht weniger wird, egal wie viel er daraus zu schöpfen versteht. Er ringt mit ihm, hätte man in geistesheroischeren Zeiten gesagt. Sie sagen, er gewinnt oder »jagt« ihm etwas ab. Da das Geschriebene immer mehr wird (Sie halten sich generös an den einzelnen Autor, der sich, im Moment jedenfalls, daran freuen kann, aber es entsteht doch auch ein furchtbares Gedrängel und ein Verdrängungswettbewerb), da das Ungeschriebene aber in unerschöpflicher Fülle sich selbst gleich bleibt und da bleibt (wo auch immer), entstehen Situationen, die Sie wiederholt an die Komödie erinnern. Unsere jiddisch sprechenden Vorläufer hätten gesagt: Der Mensch tracht, Gott lacht. Wie jede Konfrontation mit dem Nicht oder Nichts macht uns auch die mit dem Ungeschriebenen ein wenig schwindlig. »Kaspar Hauser« grübelt in seiner tiefsinnigsten Betrachtung, »Zur soziologischen Psychologie der Löcher«, über die Begegnung zwischen der Materie (samt deren Rand) und dem anschließenden Loch. Er findet, für die dort stattfindende wechselseitige Außerkraftsetzung »gibt es kein Wort. Denn unsere Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigene«.

Im Schreiben kann der Mensch sich zeigen wie kaum (noch) irgendwo sonst. Das reicht vom eigentlichsten »Herzblut« bis zu allem möglichen Imponiergehabe. Aber Sie haben Recht, wenn Sie angesichts des ungerührt darüber, dahinter stehenden Ungeschriebenen die Instanz des Selbst selber erweicht finden: Es wird zu einem Anhängsel des Schreibvorgangs und der darin dominierenden Sache. Aber auch das, was »zu schreiben ist«, dominiert nicht ungeschoren; das bloße »Aufschreiben«, mit dem ein vorgestelltes oder reelles Programm lediglich abgearbeitet wird, verbannen Sie ja wiederholt in die Niederungen des Schriftverkehrs, in denen man vom Ungeschriebenen nichts wissen will. Es wird schon eine nicht oder nicht ganz dem Selbst gehörende Subjektivität sowie Erregbarkeit, Hingabe, Vernehmenslust und dgl. am Werk sein. Vermutlich verblasst einfach die Differenz zwischen dem Subjekt und dem Werk. Wenn wir ernsthaft am Schreiben sind, ganz zu schweigen von solchen wüst-begeisterten Schreibzuständen, von denen Kafka manchmal Kunde gibt, dann spielt es gar keine Rolle, was davon »aus uns kommt« und was »außer uns« darauf wartet (oder nicht mal wartet), angefasst und gestaltet zu werden.

Im Gesprochenen liegt kein verbindlicherer Zugang zum Ungeschriebenen als im Schreiben und dem schon Geschriebenen, das stimmt. Das Gesprochene hat das Ungesagte ähnlich sich gegenüber und »arbeitet« sich an ihm »ab« wie das Schreiben / das Geschriebene am Ungeschriebenen. Immerhin: der Topos von der »Unsagbarkeit« leistet eine permanente Abbitte für die Anmaßung des Redens; eine parallele Entschuldigung mit Unschreibbarkeit ist ganz unüblich. Ergibt sich tatsächlich eine Erfahrung, die dazu greifen müsste, so sind wir dicht an einer der Katastrophen, von denen das schreibende Metier ja auch umgeben ist. In einem wichtigen Bezug allerdings hängt das Schreiben stärker am Reden, als Sie hier berücksichtigt haben: Der, für den ich schreibe, ist beteiligt an dem Gefecht oder der List, mit denen ich dem Ungeschriebenen etwas zu entreißen / abzuluchsen suche, und er ist, anders als es die briefgläubige linguistische Rede vom »Adressaten« suggeriert, eigentlich ein Anzuredender. Ich muss ihn nicht personalisieren und in keinem bestimmten Kollektiv vorstellen, aber wenn ich nicht auf irgendeinen zurechtgedachten gegenüberstehenden, mit Ohren begabten Menschen hin formulieren kann, dann erlahmt meine Anstrengung, mich in Schriftsprache auszudrücken, und tanzen die Gedanken, der Zucht entwischt, nur noch mit einander. Ich kann nicht ausschließen, dass die relative Stärke dieses Partnerbezugs an einer Art von dialogischem Temperament liegt, das weit variieren mag. Aber davon, ob die schreibend sich Hinauslehnenden einen realen Partner finden, ist sie kaum abhängig. Bei den einsamsten Kämpfern ums Wort mit dem Wort, bei Hölderlin, Rimbaud, Nietzsche und einer langen Reihe anderer, ist das Ohr des vermissten anderen mindestens ebenso wirksam wie Goethes geneigtes Ohr, wenn Schiller sich vorstellt, wie er ihm gleich die neueste Portion Wallenstein deklamieren wird.

Vieles bleibt ungeschrieben, was mancherlei Leute gern in Worte gefasst hätten. Ihr ganzer Text ist, bei großer Hochachtung vor dem jeweiligen kreativen Zustand, dem Ergriffensein und Antworten-auf-etwas, tangiert von einem Ton der Resignation, vom Bewusstsein des Ungenügens bis zur Vergeblichkeit. Aber Sie lassen nicht locker. Sogar die unaufhörliche, von »permanenter Berichtigung« geleitete »Suche nach dem Richtigen«, Lessing pur, ist ein Antrieb, womöglich der ausschlaggebende. Ich sympathisiere sehr mit dem Elan der Aufklärung, mit ihrem Denkfleiß, im damaligen Zustand der Frische wie heute nach der Postmoderne. Aber hier wünscht man sich, dass Ihr Denkspiel um das Ungeschriebene weiter führt als zu einem Hin und Her oder Sowohl-als-auch. Die wichtigste, schwärendste Portion des Ungeschriebenen und sein entscheidender Einfluss auf die Springprozession des Schreibens liegt nach meinem Eindruck in dem, was dringend dran wäre, gedacht, gesagt und geschrieben zu werden, und was sich dem entzieht. Ist es zu schwer, zu sperrig, zu komplex? Womöglich sind ja die Arme unseres Geistes nicht kräftig genug, das eigentlich Benötigte zu stemmen. »Ruki korotki«, sagt in einer frühen Humoreske Tschechows ein Zahnarzt ohne Fortune beim Grübeln über die ganz trivialen, vorwiegend finanziellen Gründe seines Misserfolgs – dieses »Arme-zu-kurz« geht mir nicht mehr aus dem Ohr. Oder ist es eine Unart unseres Geistes, eine Art von prästabilierter Disharmonie, die unsere Gedanken blockiert, zerstreut, verunsichert, ablenkt (nicht zuletzt auf die Methodik der ordentlichen Erkenntnisgewinnung und –sicherung), jedenfalls vom »Zugriff« abhält? Man kann es doch nur als Versagen von säkularem Ausmaß werten, dass die Menschheit durch Ersetzung von immer mehr Willens- (inklusive Willkür-)akten durch den Automatismus des sich selbst verwertenden Werts ein ungeheures Aufblühen von Wissenschaft, Kultur, Geschmack, Individualität, ja sogar Humanität und Moralität zustande gebracht hat, um den nicht schönzuredenden Preis der Ausrottung von Individuen und Arten (pflanzlichen, tierischen sowie menschlichen), von Zivilisationen, Wirtschafts-, Verkehrs- und Denkformen inklusive Sprachen – und dass der gesamte dadurch beflügelte Geist nicht ausreicht, dieses Prinzip wenigstens gegenwärtig, seitdem sich zeigt, dass es nicht nur die gesamte Peripherie der so zivilisierten Erde in Hunger, Korruption, Schlächterei und einen (derzeit) nicht zu bändigenden Hass versetzt hat, sondern auch die für intakt gehaltenen sozialen Körper der nominell prosperierenden und demokratischen Staaten zu zersetzen beginnt, irgendwie zu zähmen, zu begrenzen, zu konterkarieren (da an Abschaffung sowieso nicht zu denken ist, solange kaum ein ans Kaufen gewöhnter Mensch auf den Griff zum Portemonnaie zu verzichten bereit ist), ja auch nur unverkürzt zu denken und zu beschreiben. Hier liegt das Ungeschriebene als das noch nicht hinreichend Bedachte nicht in der schönen Gelassenheit des »Ickbünalldoar« unseren Denk- und Schreibanstrengungen voraus, hier lauert es auf uns in der Form einer Zeitbombe, von der wir nur wissen, dass die eingebaute Frist nicht besonders lang ist.

»Es ist für den menschlichen Geist gleichermaßen tödlich, ein System zu haben und kein System zu haben«, schrieb Friedrich Schlegel, als er noch Früh-Romantiker war und den sich überschlagenden Volten der philosophischen Selbstreflexion mit den Mitteln ebendieser Selbstreflexion Paroli zu bieten suchte. Sein Nachsatz »er wird sich also entschließen müssen, beides zu verbinden« hört sich nur solange unerlaubt harmonistisch an, wie man sich auf die Tödlichkeit seines Befundes und die Aporie dieser »Verbindung« noch nicht eingelassen hat. Das noch Ungedachte, nicht gehörig Gedankenförmige greift in das Denken noch schärfer ein oder setzt ihm heftiger zu, als Sie es für das Ungeschriebene beschrieben haben. Jeder lohnende, nicht bloß pragmatisch-funktionale Gedanke überschreitet mindestens eine der Grenzlinien, mit denen das gleiche Denkvermögen (denn es nützt nichts, die beiden Lieblingsanwendungen dieser Himmelsgabe auf zwei getrennte Akteure zu verteilen, als ob sie nicht unablässig zueinander überliefen) seine Resultate zu ordnen und zu sichern sucht. Er stößt auf ein »Sollst«, dem kein »Ist« oder »Bin« je Genüge tut. Er »mutet an« und mutet uns manches zu, wofür es keine Beweise gibt. Er deutet an, speist uns mit Metaphern ab, »sprengt« oder »bricht Bahn« und lässt uns mit den Bruchstücken der Hülsen oder Ketten fertig oder auch nicht fertig werden.

Wie kraftvoll, ja burschikos geht z. B. Marx, um gleich die einschlägigste und bis heute wichtigste Autorität für die hier skizzierte große Lücke anzuführen, mit den – kann und darf man sagen: Gedanken? – um, mit denen seine lebenslänglich unablässige Denkarbeit nicht fertig wurde! Wie ungeniert spricht er vom »Fetischcharakter« der Ware, vom »mystischen Wesen« des Kapitals und der fundamentalen Bestimmtheit der kapitalistischen Produktionsweise als einer »verzauberten und verkehrten Welt«! Das so einfach erscheinende Ding »Ware« erweist sich in der ökonomisch-sozialen Konstitutionsanalyse (im Fetisch-Kapitel des »Kapitals«) als »ein sehr vertracktes Ding«, »voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken«. Nach knappen »Form«bestimmungen, die dem »rätselhaften« Charakter dieses »sinnlich übersinnlichen Dings« zu Leibe rücken sollen, kann er schon die Lösung des Rätsels ankündigen: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin« (also weiter nichts, möchte man aufatmend konstatieren) »daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere [sic] ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« Im Verlauf seiner weiteren Darlegungen arbeitet er mit dieser wissenschaftlichen Erklärung, kann sogar in einer Kurzform dem Fetischismus die rationale Auflösung beifügen: »oder dem gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Arbeitsbestimmungen«, und dennoch verzichtet er nicht auf die Rede vom Fetisch, vom Mystizismus der Warenwelt, von der »gesellschaftlichen Hieroglyphe«. Im »Rätsel des Geldfetischs« findet er das »Rätsel des Warenfetischs« nur »sichtbar geworden« und zugleich »die Augen blendend«. In den durchgearbeiteten Partien, die er für den 3. Band der beim Schreiben sich ständig verzweigenden Architektur seines »Kapitals« vorgesehen hatte, findet er im Zins und dann wieder in der Zirkulation solcherart »mysteriöse« Potenzen und entwickelt die »trinitarische Formel« (zum Verhältnis von Arbeit, Kapital und Grundrente) in einem späten, abbrechenden Kapitel bis zu einem übermütigen Spiel mit der Gespensterhaftigkeit der dinglich-handgreiflichsten Erscheinungen: »die verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capitale und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben«.

Dass die Gespenster in Marx’ Vorstellung oder in seiner Ausdrucksweise immer wiederkehren, auch wenn er sie analytisch längst gebannt hat, kann man ihm natürlich ankreiden als ein Moment geistiger Unfreiheit oder Unentschiedenheit (schon das »Bannen« wäre ja ein unfreier Akt, ein Gegenzauber, der ständig wiederholt werden müsste). Derrida widmet »Marx’ Gespenstern« eine eigene Studie und findet in seiner Beschreibung der Metamorphose der Ware eine »spektropoetische Idealisierung«. Hartmut Böhme setzt noch eins drauf; er brandmarkt die »Fetischisierung des Fetischismus bei Marx«. Marx bleibe einer veralteten »dualistischen Kritikform«, auch »Kulturkritik« genannt, verhaftet, die die kritisierte Seite (als das »Negative, Kranke, Unwahre«) »erst hervorbringt und erhalten muss, weil sie sonst ihren Gegenstand verliert«. Er lege sich die Verhältnisse so polemisch, gewissermaßen manichäisch zurecht, damit er sie nicht »reformieren« müsse, sondern sie »mit einem Schlag abstreifen« und in »das Gesundbild einer befreiten Gesellschaft«, de facto eine »utopische Archaik« überwechseln könne. Nun mag in Marx’ politisch-praktischen Vorstellungen, wie sich der Spuk dieser Perversion überwinden ließe, mancher Kurzschluss stecken, ob aber die Kritiker den Spuk loswerden, wenn sie dem Denken reinere Figuren verordnen, die sich nicht an Vorstellungen des Aberglaubens anstecken lassen, ist doch leider fraglich. Marx findet den Fetischismus »von der Warenproduktion unzertrennlich«. Er sieht ihn einschnappen »nach wie vor jener Entdeckung«. Und in der Tat, wir mögen uns so aufgeklärt und innerlich frei fühlen, wie wir wollen, bei jedem Kaufakt stellt sich der Schein wieder ein, dass wir mit einem vorher erworbenen Ding, einem bedruckten Geldschein, ein für unseren Privatgebrauch nützliches Ding anschaffen. Und zwar unvermeidlich, da wir die Ware haben wollen, nicht aber mit dem Verkäufer und den wer weiß wie fernen Produzenten zu tun haben wollen. (Und das ist nur der oberflächlichste Part der vom »Wert« durchdrungenen gesellschaftlichen sowie intelligiblen Welt, in der wir uns stündlich bewegen). Die Metapher vom Fetisch dürfte so lange unentbehrlich bleiben, wie die Gedanken noch kein nicht-entfremdetes Verhältnis zu den in jedem Schritt der Warendistribution präsenten und nicht präsenten Partnern dieses Austauschs ausgedacht haben, und die Gedanken werden diese ihre Aufgabe wohl so lange unerfüllt lassen oder sie nur in Ansätzen meistern, mithin in der so prekären (vielleicht aber auch produktiven) gegenseitigen Herausforderung zwischen Gedachtem und Ungedachtem belassen, wie im realen gesellschaftlichen Verkehr noch keine Muster der voll vergesellschafteten, auf allen Seiten gleichberechtigten oder wenigstens mit eigenen Rechten versehenen Interaktion zur Verfügung stehen. Und selbst »Rechte« sind ja noch, siehe Benjamin, von »gerechten« Verhältnissen weit entfernt, sind im günstigsten Fall höchstens der Vorschein von praktisch-selbstverständlichen Vereinbarungen, die ohne Klage und Gericht auskämen.

Die Prozeduren, mit denen das Geschriebene sich aus dem Ungeschriebenen herauslöst, sind zwar weniger gewaltsam, aber kein geringerer Einsatz von handlungskonzentrierter Existenz als die Scheidung des Lichts von der Finsternis (lassen wir den Akteur des Vorgangs nur auf sich beruhen, den Genesis 1 zu kennen behauptet. Immerhin sind sie weniger schiedlich und nie so endgültig. Gleichwohl akkumuliert das Geschriebene zu einem gewissen Kontinuum, mit dem die Menschheit – mit einigen Unterbrechungen mittels Zensur, Bücherverbrennung und dgl. – pfleglich umzugehen gelernt hat, auch wenn seine rasende Vermehrung die Erhaltung zunehmend schwierig macht. Zur Verstetigung des Schreibens wurden Honorare erfunden und zur Erfassung auch noch der verstreuten Nutzung »Verwertungsgesellschaften« gegründet. Das Gedachte entkommt dem dringend erst noch zu Denkenden längst nicht so sicher. Immer wieder passiert es, dass das noch so mühsam und ausdauernd Gedachte seinen Urheber nicht besser stellt, als wenn er gar nicht gedacht hätte, ja deutlich schlechter, weil er behauptet, etwas durchdacht zu haben, an diesem Punkt also nicht mehr (»nach«)denken zu müssen. »Denkste«, lautet die Kurzform dieser peinlichen Erfahrung. Elaborierter und aufs Ganze (des individuellen Lebens? der Denkgemeinschaft?) zielend, doch im Resultat kaum ermutigender klingt es, wenn ein Thinkoholic wie Lessing nach seinem Einlenken in eine Bibliothekarsstelle bei Hofe einem ungeschickten, mit sich selbst zürnenden Liebhaber auf die Zunge legt (und damit dürfte mehr ausgesprochen sein als nur Liebesverwirklichungssehnsucht): » – noch einen Schritt vom Ziele, oder noch gar nicht ausgelaufen sein, ist im Grunde eines«.

Einen ebenso prekären wie unentbehrlichen Ausgleich für seine fortlaufende Entwertung durch das, was in ihm unbedacht geblieben ist, sucht das Denken bei dem, was zuvor gedacht worden ist. Auch das Geschriebene speist sich, ob der Schreibende will oder nicht, aus der Fülle der vorliegenden Werke und Tropen. Vielleicht stärkt es sich daraus für sein Gefecht oder seine Koexistenz mit dem Ungeschriebenen. Aber so viel der Kreative auch vorliegenden Kreationen entnimmt, er braucht sie nur wie Steinblöcke oder Strickmuster: um sie umzuschaffen. Gedanken sind stärker auf das schon Gedachte angewiesen und können es nicht im gleichen Sinne oder Maße in einen Steinbruch der neuen intellektuellen Unternehmung verwandeln, Brecht z. B., ausgerechnet Brecht – Sie sehen, ich mache Gebrauch von dem, was ich soeben behaupte – entwickelt im Exil eine beachtenswerte Hochachtung vor den Gedanken, mit denen die Menschheit irgendwie, d. h. durch Weiterdenken, auskommen muss. Nicht mehr auf den puren »Materialwert« für seine Frechheiten, die einzig zählen sollen, reduziert er die Tradition von der Bibel bis zu den Klassikern (und manchen experimentellen Autoren). Auf vielen Feldern der Tradition findet er jetzt Gedanken, die weitergedacht zu werden verdienen: in der Bibel und bei Laotse, bei Dante, Michelangelo, Shakespeare, Diderot, in den »Klassikern« der anderen Art, denen der Arbeiterbewegung. Vom Musterbild des »Zweiflers«, in einer umfassenden Bewegung des vom Zweifel beflügelten Denkens sieht er sich und seinesgleichen befragt: »Sind die Sätze, die / Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt?« Dem ungemein »nützlichen«, dem »nackten«, »groben«, ohne die Aufmerksamkeit der Hörer aber hinfälligen »Gedanken in den Werken der Klassiker« (der Gedanke braucht offenbar »Hörer«, auch wenn es Leser sind) sagt er nach: »Es bekümmert ihn nicht / Daß du ihn schon kennst, ihm genügt es / Daß du ihn vergessen hast«. Gegen den Sog des Exils zur Isolation der auch zuvor schon stark auf ihr Einzel-Ich zurückgeworfenen Dichter, die auch denken (müssen), sucht und empfiehlt er (beides mit großer Hartnäckigkeit) einen solchen Umgang mit den Zeitgenossen, mit der Tradition, mit »exotischen« Quellen von Erkenntnissen, der deren vorliegende Zeugnisse als Ensemble von Problemen zur Weiterbearbeitung ernst nimmt. Dass er unter den Exilierten eine Diderot-Gesellschaft ins Leben rufen wollte, mag von seiner Zustimmung zu Grundeinsichten der Schauspielkunst oder von seiner Vorliebe für gewitztes Schreiben überhaupt, für Dialektik in actu inspiriert gewesen sein. Prinzipiell aber bot sich Diderot, vor allem Diderot, als Leitfigur für die verstreuten und politisch wie künstlerisch und philosophisch divergierenden aus Deutschland Vertriebenen an, weil diesem Diderot nichts so am Herzen liegt wie: das Denken immer wieder auf das noch zu Denkende, das erst ungenügend oder noch gar nicht Gedachte zu hetzen und sich darin einwühlen zu lassen. Leider wurde nichts aus Brechts Vorschlägen. Heute wäre eine solche Konzentration auf das Denknotwendige, mit oder ohne diesen Namen, der ein Programm darstellt, nicht weniger nötig als in jenen Zeiten, die von den Erlebenden als »finster« bestimmt wurden.

Ich schreibe das nicht, lieber Herr Schödlbauer, um das Ungedachte, das uns dermaßen zusetzt, gegen Ihr Ungeschriebenes auszuspielen, das ruhiger zu warten scheint. Eher im Gegenteil: Ich möchte die Vermutung vorantreiben, dass im Raum, in der Potenz und der Modalität des Ungeschriebenen ganze Arsenale von diesem Quellstoff und Sprengstoff liegen, die zum Gären oder zur Entladung drängen. Schreiben ohne Denken ist schwer vorstellbar, und das große Nicht des Ungeschriebenen, das beim Akt des Schreibens ständig in ein Noch-nicht (aber gleich) vorläuft, um sich, ehe noch die Tinte trocken ist, in das ungerührte Nicht (eben doch nicht / wieder nicht) zurückzuziehen, es wäre nicht so prickelnd, wenn es vom Noch-nicht dessen, was zu denken ansteht, gänzlich untangiert wäre. Wie die Dichter und die Denker in der gleichen Welt leben und auf die gleiche, die sowohl hartnäckige als auch galoppierende Fehleingerichtetheit dieser Welt reagieren (müssen), so partizipieren sie auch an der einen Vernunft, so viele Gesichter, zu Deutsch Facetten, und so viele Gangarten, so unterschiedliche Kohärenz- und Konsekutionsmodi diese auch annehmen mag. Es bleibt alarmierend, dass »die unverzügliche Rettung der Welt« (Helga Königsdorf) nur immer postuliert wird und (noch) nicht ausgedacht ist. Ist es dann ein Trost, dass allem Erdachten und zu Papier Gebrachten ein durch die gesamte intellektuelle Fingerfertigkeit der sich ablösenden Generationen auf dem Globus nicht ausschöpfbares Ungeschriebenes vorausliegt?