Ulrich Schödlbauer: Kontur der Schwester in der Nacht
»Im Zentrum, von allen Seiten umschlossen, sitzt die Trauernde, die mich, vielleicht zu Unrecht, an eine Magdalena erinnert. Jetzt fällt mir auf, dass ihre Zelle als einzige eine Öffnung besitzt: ein Gitterfenster, das auf den Chronos-Typ geht, von dem sie sich aber abgewandt hat. Um wen mag sie weinen: um den Ertrinkenden? Um das Kind, das vom Vater verschlungen wird? Warum glaube ich, dass sie weint? Sie hält die Hand vors Gesicht: erschrocken also, entsetzt? Vielleicht kommt das Entsetzen von innen und nichts von dem, was um sie herum vorgeht, kommt in sie hinein? Mir fällt das Eckige, abgeschnitten Wirkende ihrer Schulter auf. Schon wächst meine Antipathie: Was ist das für eine? Was will sie? Worauf sinnt sie? Wie sieht ihr Stück vom Kuchen aus und wie will sie an ihn herankommen? Täuscht sie mich, täuscht sie alle? Hat sie Grund, ihr Gesicht zu verbergen? Vielleicht ist es Scham, die sie bewegt.«
aus: Ton Stein Haus. Schreibstücke