Ulrich Schödlbauer: Organum Mortis
Der Gedanke, ein Totenbuch zu schreiben, kam mir früh, etwa mit zwanzig, nachdem mir die unter diesem Titel bekannte Sammlung altägyptischer Texte in der Übersetzung von Gregoire Kolpaktchy in die Hände gefallen war: einer jener Blitze, wie sie junge Menschen treffen, um sie ihr weiteres Leben lang zu beschäftigen. Irgendwann fasste ich den Vorsatz, dieses Buch bis zum fünfzigsten Lebensjahr abzuschließen, weil mir auffiel, dass die Todesrede danach einen anderen Ausdruck annimmt, sofern sie nicht überhaupt, jedenfalls in einer bestimmten Richtung, verstummt. Ein Totenbuch versammelt ja keine Reden von Toten – so gesehen wäre der kulturelle Bestand ein einziges großes Totenbuch –, sondern dient der Vorbereitung des Unbedarften auf die große Passage, jenen Übergang, den das Wort ›Sterben‹ nur notdürftig umschreibt, da es sich auf den sogenannten letzten Lebensabschnitt bezieht, also gerade das auslässt, worauf hier zugesteuert wird. Es ist, wie gesagt, auch nicht der Sterbende, der solcher Worte bedarf, sondern der Unbedarfte, das ›Wesen, das weiß, dass es sterben muss‹, aber mit diesem Wissen nichts anzufangen weiß.