AD ACTA
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Scherzkeks
Ulrich Schödlbauer
Gedicht
Gedicht
Vorbemerkung
In einem Text, der als Beitrag zu der von Susanne Knaller und Harro Müller organisierten Tagung »Realitätskonzepte in der Kunst der Moderne« (Graz, 11.6.-12.6. 2010) entstand, wurden unter dem Titel »Medialität generiert Realität – Prüfung einer These« die im folgenden zusammengefaßten Überlegungen vorgetragen. Diese werden demnächst u. d. T. »Realitätskonzepte in der Moderne. Beiträge zu Literatur, Kunst, Philosophie und Wissenschaft« im Fink-Verlag erscheinen. Was aber dort nicht erscheinen kann, sind die Bilder die als Veranschaulichungen der vorgetragenen Thesen dienen können; diese werden daher nunmehr hier präsentiert: der Film Céline et Julie en bateau von Jacques Rivette sowie die abstrakten Gemälde von John Tierney.
Kurt Röttgers, im November 2010
Zusammenfassung
In dem Tagungsabeitrag wurde die These »Medialität generiert Realität« einer Prüfung unterzogen, indem
Die Pro-Argumente werden zunächst gemäß einer in der Medientheorie geläufigen Unterscheidung geprüft:
wobei der Begriff des Mediums als Mitte nicht als Mittel (zu Zwecken) verstanden werden muß.
Gegen die These spricht,
Die Neuen Medien, insbesondere das Internet, leiten dazu an, auch die alten Medien neu zu begreifen, d. h. die Netzstruktur und das Labyrinth als Wissensorganisationsformen der Postmoderne zu verstehen.
Die Neuen Medien – und das ist jetzt die modifizierte Form der zu prüfenden These – generieren neue Realitäten sui generis, z. B. »Second Life«, und verwandeln damit auch die alte Realität, z. B. die Identitätskonzepte.
Die Neuen Medien reihen sich ein in eine neue Immanenzphilosophie, die den Repräsentationsbegriff der klassischen Ontologie und Erkenntnistheorie hinter sich läßt und stattdessen mit der labyrinthischen Netzstruktur einer nomadologischen Erkenntnisstruktur folgt.
Das sei nun im folgenden an einigen Beispielen erläutert.
Rembrandt malt den Philosophen
Das Medium – hier die Fensterscheibe – vermittelt dem Philosophen das Licht der Wahrheit, nicht mehr der Weg nach oben, der nur ins Dunkle führt.
Paulus Potter, der größte Kuhmaler aller Zeiten, malt eine Kuh »richtig«
Zur polemischen Auseinandersetzung mit einem radikalen Naturalismus.
Magritte und die Realität
Magritte, der »malende Philosoph«[ 1 ], dekonstruiert den radikalen Naturalismus.
Realitäten in Rivettes Film »Céline et Julie en bateau«
Der genannte Film stellt sich dem Thema »Medialität generiert Realität« auf verschiedenste Weise. Er beginnt auf der Ebene der Identitätskonstruktion durch die gegenseitige Bezauberung zweier junger Frauen in der Konstellation reiner Intersubjektivität, oder anders gesagt einer »folie à deux«. Am Beginn steht die doppelte Magie/Bezauberung: Julie, die Bibliothekarin, liest ein Buch über Magie, Céline trägt sich im Hotel als »magicien« ein und tritt im Variété als Zauberin auf.
Céline verliert in einem offenbar derangierten Zustand Gegenstände, die auf Julie als Köder wirken, Céline zu verfolgen. Die verlorenen Gegenstände (Sonnenbrille, Halstuch, Puppe) werden von Julie nach und nach angeeignet, sie setzt die Sonnenbrille auf, sie tut das Halstuch um, und die Puppe erscheint später in ihrer Truhe. Die gegenseitige Bezauberung führt zu einem zunächst spielerischen Identitätstausch inclusive der Aneignung der identitätsverbürgenden fremden Vergangenheiten.
Offenbar will sie sich aber auch so nach und nach verfolgen lassen. Beide ziehen ihre Schuhe aus. Doch als sie das erste Mal miteinander reden, wird Céline als »Mademoiselle« angeredet und antwortet noch entfremdender mit »Monsieur«. Tarot-Szene mit der anderen Bibliothekarin: nun ist Céline gefolgt und beobachtet Julie. Sie tun Ähnliches: Fingerabdrücke (Julie) und Handumriß nachziehen (Céline). Eine andere Zeichnung Célines in einem Kinderbuch wird von Julie herausgerissen, angeeignet und an ihrem Busen verborgen. Identitätsfestestellungen: Céline lügt ganz offensichtlich. (Der Kaiser der Pygmäen habe ihr einen Tiger geschenkt, der Teil von Afrika, in dem sie war, heißt Bengalen) Sie sagt, sie habe früher rote Haare gehabt (wie Julie), jetzt aber wieder »normal«. Céline erzählt von einem Job als Kindermädchen in einem Haus mit Frauen in einer geheimnisvollen Beziehung. Auf dieser Ebene ist das eine ihrer Lügen, bzw. Phantasiegeschichten. Julie tut etwas in den Saft, von dem beide trinken. Julie will die Adresse des geheimnisvollen Hauses, Céline sagt, sie habe sie ihr gestern gegeben, wovon der Zuschauer nichts weiß, und Julie »erinnert« sich und geht dorthin. Céline nimmt am Telefon die Rolle von Julie an und verabredet sich mit deren Jugendfreund.
Julie sucht das Haus auf, von dem Céline erzählt hat, es ist zugleich das Haus, von dem sich ein Photo in Julies Truhe befindet. Célines Phantasie wird zur Realität, die Julie aufsucht. Céline erfindet bei ihrem Treffen eine gemeinsame Vergangenheit mit Guillon, nun hat sie (eine Perücke von) rote Locken wie Julie.
Nach der Rückkehr aus dem Haus torkelt Julie wie zuvor Céline; sie entdeckt ein Bonbon in ihrem Mund. Céline erzählt vor ihren Freunden von ihrer reichen Freundin aus Amerika, keiner glaubt ihr, sie sagt, diese habe aus ihr eine Pygmalia machen wollen, um sie in die ganz große Gesellschaft einzuführen. Ab jetzt gibt es Einblendungen von Szenen aus dem Haus, aber wie wenn der Film eine Phantasie ins Bild setzt – blassere Farbgebung.
Céline tritt als Zauberin auf und wird dabei beobachtet. Julie weiß von Célines Angeberei. Aber Erinnerung ist eine Identitätsvergewisserung, auch eine erfundene. Die Szenen aus dem Haus haben an dieser Stelle die Funktion solcher fiktiven Erinnerungen. An dieser Stelle möchte Céline abhauen, sie kann es aber nicht, offenbar ist es schon zu spät dafür. Julie ersetzt nun die Magie durch die Imaginationen des Hauses. Sie vermutet, daß Céline zum Haus gegangen ist und geht auch dorthin; statt zu klingeln, sucht sie einen anderen Weg: Einbruchsversuch. Bei der Gelegenheit entdeckt sie am Hintereingang des Hauses ihre alte Kinderfrau, die ein problematisches Elternhaus von Julie offenbart. Rote Hand auf der Schulter, Bonbon im Mund und torkelnder Gang sind auch Célines Kennzeichen, als sie das Haus verläßt.
Später aber sind beide dieselbe Person Angèle, als Engelsassoziation immerhin eine Identität des Übergangs. Das geschieht auf einer Ebene, die zunächst wie eine phantastische Digression einer Realität als rein fiktionale Ebene eingeführt wird, an blasseren Farben erkennbar.
Sowohl Céline als auch Julie sind die Kinderschwester Angèle in dem Haus. Nun scheint es so, als wäre die rote Hand ein Zeichen der Ermordung von Madlyn, dem Kind.
Eingeführt als fiktionale Erzeugung einer gemeinsamen Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, wird diese phantastische Welt aber zunehmend zur eigentlichen filmischen Realitätsebene. In filmisch medial erzeugter Repräsentation tritt diese Realitätsebene zunehmend an die Stelle der filmisch als real repräsentierte Realität und die Fiktionalität erzeugenden Realität. Erscheint das für den Zuschauer einfach als eine im Film erzeugte Substitution, die den Zuschauer und sein Zuschauen unbetroffen läßt, so ändert sich das an der Stelle, an der die substituierende neue Realität nun noch einmal gebrochen wird.
Selbst also in der emphatischen Zweierbeziehung J/C gibt es wenigstens phantastisch die Dritten. J/C haben Madlyn, die zwischen zwei Zweierbezieungen der zwei Frauen um den Mann im Haus stehen, und wiederum mit der verstorbenen Frau des Mannes verbunden sind. Die verstorbene Frau hatte von ihrem Mann das Gelübde abgenommen, daß er nicht heiraten werde, solange Madlyn noch nicht erwachsen sei. Die immer zurückgesetzte Schwester der Verstorbenen (die ausgeschlossene Dritte) macht sich nun Hoffnungen auf den Mann und sagt, ein solches Gelübde hätte man niemals jemandem abnehmen dürfen, aber die andere Frau war Zeugin des Gelübdes (eine Dritte). Aufgrund des Treffens mit Céline (in der Rolle von Julie) macht Grégoir (Guillon) am Telefon Schluß mit Julie (ausgeschlossener Dritter aus J/C), umgekehrt tritt Julie im Variété in die Rolle von Céline und verdirbt alles. Aber in der Gestalt von Angèle sind beide dieselbe. Alle Szenen im Hause wiederholen sich: Bruchstücke, die sich nach und nach zu einer Geschichte zusammenfügen. In der Bibliothek stehlen beide ein Buch, um die Drogen selbst herzustellen: Wasser – Luft – Erde (dafür steht Petersilie ein Wortwechsel persil – esprit) – Feuer.
Die eine Person Angèle, die beide, zunächst abwechselnd, dann gemeinsam sind, wird durch die Figur des Dritten noch einmal gebrochen. Nun erscheint ihr Agieren als Agieren auf einer Bühne; sie benutzen eine Textvorlage für ihr Reden, ihnen muß aus einem Off souffliert werden, und sie erhalten Applaus aus einem unsichtbaren Publikum. Ab jetzt spielen die zwei die Rollen ihrer Halluzinationen, ja sie haben eine Textvorlage in der Hand, d.h. alles spielt sich auf einer Bühne ab. Ihr Ziel ist es, Madlyn vor der Ermordung zu erretten. Frage: Was ist wenn wir nicht wieder zurückkommen. Erstmals sieht man sie jetzt beide in der Rolle als Angèle in dem Haus.
Nun nimmt die Interpretation des Geschehens als Bühnengeschehen vorrangig Gestalt an, sie hat den Text vergessen und es gibt von irgendwoher Applaus.
Sie sind nun auf dem Theater und nicht mehr in einer phantastischen Erinnerung. Aber paradoxerweise sind sie für den Hausherrn, jedenfalls wenn sie beide zugleich als Angèle anwesend sind, unsichtbar.
Ab jetzt spielen sie ihr eigenes Spiel. Sie sind die Dritten in dem Bühnengeschehen. Sie versetzen alle in einen Dornröschen-Schlaf und entfliehen mit Madlyn.
Danach aber wachen sie auf – die Bühne sollte selbst nur ein gemeinsamer Traum gewesen sein? Aber Madlyn ist nun tatsächlich ein Teil der Realität geworden. Oder sind diese die einzigen Traumgestalten und das Haus ist die Realität? Vorschlußszene: J/C + Madlyn en bateau, aber in einem anderen Boot sind die anderen drei Gestalten aus dem Haus. Das sind aber zwei verschiedene Boote. Und die drei aus dem Haus sind merkwürdig unbeweglich / wie Tote.
Ab hier wird die Funktion der Figur des Dritten für die mediale Konstruktion der sozialen Realität offenkundig. Und der Zuschauer kann es nicht mehr vermeiden, sich selbst als eine mögliche Spielart dieser Figur des Dritten zu begreifen. Als solle dieser Film eine Widerlegung von Kracauers Filmtheorie sein, ist das Filmgeschehen nun nicht mehr einfach die Abschilderung einer, und sei es auch phantastischen Realität, sondern das Filmgeschehen wird direkt abhängig von der Möglichkeit des Zuschauers und seinen Interpretationsmöglichkeiten.
Wie Angèle (Julie und Céline) endlich für die Figuren der phantastischen Realität unsichtbar wird, ist der Zuschauer immer schon unsichtbar für das, was er sieht. Der Film reflektiert seine eigene Stellung als medial generierte Realität zwischen Zuschauer und filmischem Aktionsraum. Der Zuschauer, wenn er mitmacht in diesem von der Performanz des Films hervorgerufenen Spiel, wird sich seiner Interpretationskraft und auch der Notwendigkeit, sie auszuüben, inne, durch die er das Gesehene bewertet. So muß er sich z. B. entscheiden, ob vielleicht die phantasierte Welt die reale sein könnte und die zwei Frauen nur zwei verschiedene, letztlich konvergierende Medialitätsweisen ihrer Präsentation.
Die Vorgänge dieser Welt bleiben uneindeutig, wie auch die Schlußszene enthüllt, in der die Personen der phantasierten Welt in die phantasierende Welt eintreten, aber zugleich – unbeweglich wie Tote – eigentümlich fremd in einem anderen Boot an dem Boot der zwei Frauen vorbeigleiten, das Kind Madlyn aus dieser Welt jedoch als real geworden gedeutet werden kann. Das Medium, d.h. die Mitte zwischen dem Zuschauer und (seiner) Phantasie generiert Realität sui generis und ihre letztlich immer fiktionalen Strukturen und weist damit nachdrücklich darauf hin, was Derrida die »Abwesenheit des wirklichen Lebens« genannt hat.[ 1 ]
Schlußszene: revers der Eingangsszene: Julie kommt an Céline vorbei und verliert Gegenstände, vor allem ihr Buch über Magie.
[ 1 ] J. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976, p. 54.
Die Gemälde von John Tierney
Als ich vor einiger Zeit einer Freundin erzählte, daß ich mir ein Ölgemälde des Malers John Tierney gekauft hätte, fragte sie mich, was darauf zu sehen sei: Ich antwortete wahrheitsgemäß: Farbe, eben nicht eine »richtige« Kuh.
Auf seiner Homepage (http://www.john-tierney-painter.com) sagt John, daß Kunstwerke wie Landkarten seien. Einerseits möchte ich ihm zustimmen, andererseits doch darüber hinausgehen. Landkarten sind in der Tat für den, der sie macht, nicht Abbilder, man muß vielmehr das Land durchmessen, durchschritten, erwandert haben, um es in einer Karte festhalten zu können. Der Benutzer der Karte wird nicht sagen können, wenn er die Karte sieht, nun kenne er das Land, auf das sich die Karte bezieht. Ihm dient die Karte dazu, das Land allererst erwandern zu können, und er tut es, indem er zuerst die Karte durchwandert. Aber ich möchte John Tierney auch ergänzen. Bilder sind mehr als Landkarten. Die Länder, deren Karten sie sind, erschaffen sie allererst; sie beschreiben nicht nur Orte (also Farben, Rhythmen), sondern schaffen neue. Das tun sie auf zweierlei Weise, wenn es sich um große Kunst handelt: im Schaffen des Künstlers und im (wiederholten) Sehen des Betrachters. Die allermeisten und die wichtigsten Werke Tierneys sind abstrakte Malerei. Der große Vorteil abstrakter Malerei für den Betrachter, jedenfalls im Falle gelungener Kunst, besteht darin, daß im wiederholten Schauen stets Neues entdeckt werden kann, ohne durch Wiedererkennens-Blockaden im Sehen festgelegt zu sein. Wenn auf einem Bild ein Haus zu sehen ist, wird der Betrachter bei jedem wiederholten Betrachten dazu verführt sein, wieder und wieder das Haus zu sehen, und eben nicht jenes Rot, das sich irgendwie von einem wogendes Grün wie ein Schrei absetzt. Wenn man aber ein abstraktes Gemälde vor sich hat, in dem ein Weiß einen dominanten Rhythmus des Ganzen abgibt, dann kann man den Relationen zu den anderen Teilen der Fläche, zu den anderen Farben des Bildes folgen oder zu den anderen, subdominanten Rhythmen.
Als ich selbst meinen ersten »Tierney« erwarb, zögerte ich lange mit der Entscheidung zwischen zwei um meine Gunst buhlenden Bildern, das eine zog mich spontan in seinen überwältigenden Bann, das andere wirkte langsamer und anhaltender. Ich habe mich für das zweite entschieden. Wegen seines überwältigenden Eindrucks bewirkte das erste zugleich eine Blockade, immer wieder dasselbe in ihm sehen zu müssen, bzw. immer wieder den gleichen Linien und Spuren folgen zu müssen. Das zweite wirkte und wirkt bis heute verhaltener und erzeugt in den wiederholten Seh-Erfahrungen immer neue Ereignisse. Es ist wie mit erotischen Erfahrungen: einige wirken so stark und überwältigend, daß man ihnen nicht oder nur schwer widerstehen kann. Aber diese Erfahrungen lassen sich nicht differenzierend wiederholen. Sie fixieren und blockieren; deshalb kann man mit solchen Erfahrungen nicht »verheiratet« sein; und es gibt jene subtileren Erfahrungen, die es erlauben, mit dem Partner stets neue Ereignisse zu schaffen und Erfahrungen zu machen. Es ist gewiß eine sehr persönliche Einstellung, mit welchem von Johns Bildern jemand einen »Bund fürs Leben« eingehen möchte. Schließlich sind die erwähnten Seh-Blockaden eher Unfähigkeiten und Defizite des Betrachters als solche der Werke selbst, die sich in ihrer Offenheit für sehr verschiedene Erfahrungen und Erkenntnisse eignen.
Zwei Dinge charakterisieren das Werk von John Tierney in hervorragender Weise: die Farbe und der Rhythmus. Unter Rhythmus ist dabei zu verstehen die Begegnung zweier Zeiten. In den Bildern Tierneys sind es auf der Hauptebene des Gestalteten folgende zwei Zeiten: erstens die Verführung des Sehens in eine bestimmte Bewegung hinein, also eine rein sinnliche, quasi musikalische Zeit; zweitens ist es die erkennende Entdeckung der Zeit des Gemalten, also eine rationale Zeit eines identifizierende Cogito. Die erste Zeit ist die im Sehen sich stets neu errichtende in im gesehenen Bild sich einrichtende Zeit, eine gelebte Zeit (temps vécu), die sich in der Bewegung der bemalten Fläche, d.h. im zweidimensionalen Raum realisiert. Die zweite Zeit dagegen wird lesbar wie ein Palimpsest. Die erste Zeit ist mehr die des Malers während des Schaffens, die zweite mehr die des Betrachters, wenn er die Distanz des wiederholten Sehens gewonnen hat. Aber tatsächlich überkreuzen sich beide Zeiten permanent und geben den Bildern ihren spezifischen Rhythmus. Die erste Zeit ist nur scheinbar diejenige, die mit einer weißen Leinwand beginnt, mit den Grundierungen und den ersten Farbschichten fortfährt bis hin zu jener letzten Bemalung, in der dann die zweite Zeit beginnen könnte. Aber in doppelter Weise ist es nicht so. Denn der Maler malt »sehenden Auges«, was nichts anderes heißt, und das wird in Tierneys Bildern überaus deutlich, daß das Bild von den ersten Pinselstrichen an rhythmisch, d.h. als die Begegnung mehrerer Zeiten und Bewegungen verfaßt ist, und zweitens ist natürlich der Beginn nicht die weiße Leinwand. Jeder Beginn löscht einen anderen aus (andere schon vorhandene Bilder oder andere Möglichkeiten), jedes Bild löscht aus, übermalt und negiert andere Möglichkeiten und gewinnt genau dadurch seine spezifische Gestalt, Und das heißt in Tierneys Bildern vor allem seinen spezifischen Rhythmus und seine spezifische Farbgebung. Über die Farbgebung ließe sich auch vieles sagen, und man wird wieder verleitet, von musikalischer Metaphorik Gebrauch zu machen und zu sagen, daß es im Werk Tierneys wiederkehrende Harmoniken oder »Zwölfton-Reihen« gibt. Mir selbst sind auffällig geworden eine Reihe von Bildern, in denen Blau und Weiß dominant sind, und andere in denen es eher um eine Begegnung von Rot und Schwarz geht. Aber insgesamt gibt es eine solche Vielfalt singulärer Farb-Begegnungen, daß jede Verallgemeinerung der gerade geäußerten Art eher etwas über die Attraktionen, denen ich als Betrachter ausgesetzt war, aussagt als daß es als einer objektiver Befund über das Gesamtwerk zu sein beanspruchen könnte. Die zweite der genannten Zeiten doch auch nur scheinbar der unbeschwerte und unbefangene Eingang in das Bild, sozusagen nur scheinbar die Verführung einer naiven Unschuld des Sehens durch die sinnliche Gewalt des Bildes. So wie jede Verführung zugleich ein Begehren ist zu verführen und verführt zu werden, so stellt sich der Zugang zu Tierneys Bildern auch in dieser Doppelheit dar, nämlich sich durch die kraftvolle Rhythmik in das Bild hineinziehen zu lassen und zugleich als Begehren, etwas darin zu sehen. Was ist dieses Etwas, was wir in John Tierneys Bildern sehen (wollen)? Die nur scheinbar triviale Antwort muß lauten: Farben.
Ich möchte im folgenden zwei der Werke gemäß meinen Seh-Erfahrungen exemplarisch beschreiben. Das erste ist ein Gemälde, das keinen Titel trägt und sich im Hause des Künstlers befindet. Wir sehen hier ein sich von rechts unten nach links oben erhebendes Weiß, folgen wir ihm, so erscheint sofort ein zweites Weiß, das das erste in der Mitte des Bildes zu unterbrechen scheint, ohne daß es jedoch zu einer Berührung kommt: zwei sich begegnende Bewegungen, durch die Begegnung erzeugt sich in der ersten Bewegung nach oben hin ein komplexerer Rhythmus. Die effektvolle Nichtberührung läßt an dieser Stelle einen Zwischenraum in Rot entstehen. Aber sofort wird klar, daß dieses Rot, dieses Zwischen eher da war und die komplexe Rhythmik der zwei Weiß überhaupt erst ermöglichte. So erhält das Bild eine weitere rhythmische Schicht, nämlich des Früher und Später, das die spontane Bewegung des Auges durch das Bild erkennend überlagert. Einerseits ist dieses Früher in Rot im Vergleich zu der enormen Dynamik des ersten Weiß ruhiger, unaufdringlicher, sozusagen der Welthintergrund, vor dem sich die Seh-Ereignisse auftürmen. Andererseits aberbleibt nun der Hintergrund nicht, was er gewesen sein mag, bevor es im Malprozeß das Weiß gab, d.h. nur als Vergangenheit des Bildes ist es präsent, nicht als vergangene Gegenwart, es wird daher von der exzessiven Dynamik des Weiß mitgestaltet, sozusagen mitgerissen. Es erscheint hier das Nichtmehr-Sichtbare des Vergangenen als die Rückseite der Gegenwart. Das gilt auch für unterbrechende zweite Weiß, in seinem obersten, endenden Teil aufgebrochen ist. Folgen wir nun aber dem Zwischen zum Grund, so erscheint plötzlich, kaum jemals sofort wahrnehmbar, eine in sich ruhende geometrische Figur. Ist diese jedoch erst einmal entdeckt, so erschließt sich plötzlich, als plötzlich Ereignis der Ruhe, eine regelrechte Kette weiterer ruhiger Elemente, die aufsteigt bis zu jener Stelle, an der die Kraft des ersten Weiß, nunmehr in sich geteilt, mit der Ruhe eine Quasi-Synthese einzugehen scheint. Das zweite ist 2007 entstanden, trägt den Titel »Merciful« und wurde auf der Ausstellung in der Moschee von Xania gezeigt. Wie viele der Bilder Tierneys hat auch dieses ein Kraftzentrum genau in der Mitte des Bildes. Um dieses Zentrum herum bilden sich auch Rhythmen. Auch hier ist eine von unten ausgehende Bewegung von Weiß und Gelb in der Mitte gebrochen, hier durch ein Schwarzblau, welches hier ebenfalls von unten ausgeht und sich ebenfalls in die linke obere Ecke hineinbewegt. Was also sowohl im Anfang (unten) als auch am Ende ein harmonisches Nebeneinander sein könnte, entfaltet in der Mitte des Bildes um das Zentrum herum enorme Spannungen. Auch dieses Bild vereinigt so eine strenge Grundstruktur mit einer explosiven Rhythmik. Während das minoische Labyrinth mit seiner Begegnung, bzw. Überlagerung zweier Bewegungsformen schon Archèiker wie z. B. Griechen in Verwirrung versetzen konnte, so sind die Bildes Tierneys, die z. T. auf Kreta entstanden sind, vieldimensionale Labyrinthe. Tierney selbst sagt, daß seine Bilder Landkarten seien. Aber man wird sofort hinzufügen müssen: es sind Karten ohne Referenz, d.h. in ihnen fehlt jene berüchtigte Markierung von Informationstafeln, auf denen dann steht: »Und hier bist du«, und alle Indizien, die es ermöglichen würden eine solche Selbstlokalisierung des Betrachters zu vollziehen. Und so sind es Karten, in denen man wandern kann, Medien also als Mitten, und nicht Mittel, mit deren Hilfe man anderswo wandern könnte.
Abstrakte Malerei lebt in ihrer Wirkung davon, daß sie nicht ein Etwas außerhalb ihrer selbst repräsentierend oder referierend zeigt, sondern daß sie sich selbst zeigt. Sie repräsentiert nicht ein Etwas (Ding oder Phantasma), sondern sie präsentiert sich. Aber natürlich werden auch Betrachter, die im Sehen abstrakter Gemälde geschult sind, immer wieder davon heimgesucht, innerhalb des Bildes einen repräsentierten Gegenstand der »wirklichen Welt« wiederzufinden. Das ist mir auch in John Tierneys Bildern wiederholt so gegangen. Das betrachte ich aber nicht als eine Verfehlung oder Schwäche, sondern als ein Gesetz, dem unser Sehen unterliegt, nämlich Dinge wiederzuerkennen und Ähnlichkeiten zwischen Dingen zu bemerken. So kann man auch in den abstrakten Bildern Tierneys »Augen« »sehen« oder eine »Dornenkrone« und dgl. Spätestens aber an einer solchen Stelle müssen wir mit dem genannten Verführungsprozeß neu beginnen können. Und große Kunst der abstrakten Malerei bewährt sich meiner Ansicht nach genau darin, dieses immer wieder und immer wieder neu zu ermöglichen, d.h. jene erste Seh-Erfahrung auszulöschen und zu übermalen. Auch die Seh-Erfahrungen mit großer Kunst wie der von John Tierney begründen Palimpseste. Wenn wir aber nicht ein Etwas, das wir von außerhalb der Bilder schon kennen, in den Bildern sehen, wenn die Bilder also nicht etwas repräsentieren, sondern sich präsentieren, was ist dann dieses Etwas? Es sind wie gesagt die Farben, sie verweisen aufeinander, und ihr Kontrast, ihre Harmonie oder ihre Differenzen konstituieren den Sinn der Bilder. In John Tierneys Bildern wiederholen sich, wie gesagt, bestimmte Farbbegegnungen. Farben, im Miteinander können verschiedene Wirkungen erzeugen, sie können sie abschatten, relativieren, sie können im Kontakt zueinander Allo-Colores bilden, wenn man dieses Kunstwort einführen darf, um eine Analogie zu den Allophonen der Phoneme in der Linguistik zu kreieren (Nb.: John Tierney ist studierter Linguist, ich vermute, daß die in der strukturalistischen Linguistik gepflegte Abstraktion von den gemeinten Welt-Dingen und die Konzentration auf die Regularitäten eines in sich geschlossenen Sprachsystems auch die Immanenz der Bildlichkeit Tierneys beeinflußt hat). Farben verbinden sich aber, und das macht ihr eigentliches Leben in diesen Werken aus, mit der großartigen Rhythmik.