Dageblieben

Der Westen übte auf mich immer eine große Faszination aus. Er war die Folie meiner Wünsche. Im Osten leben zu müssen, empfand ich als Last, die ich im alltäglichen Leben wie beim Ausmalen aller meiner Perspektiven spürte. Abzuhauen verbot ich mir. Dafür gab es gute christliche Gründe und natürlich das Vorbild Bonhoeffer. Und es gab das schale Gefühl, nicht nur seine Familie, Freunde und Kollegen im Stich und mit dem Problem der DDR alleine zu lassen, sondern auch der SED ihren Teil Deutschlands kampflos zu überlassen und ihn damit weiter zu ruinieren. Als dann aber an meiner Tochter, und zwar bereits in der ersten Klasse, in der sie Klassenbeste war, ein für diese Phase der DDR spezifisches Exempel von Bildungsdiskriminierung exekutiert wurde, (die Schule versagte ihr die Delegierung zu einer Spezialschule), gab ich meine Zurückhaltung gegenüber meinem Wunsch, in den Westen zu gehen, auf. Im Sommer ’89 stand mal wieder eine private Westreise an, die ich für ein Wegbleiben nutzen wollte. Aber ich tat gut daran, dem Rat meiner Frau folgend dieses Mal noch auf das Abhauen zu verzichten.

Die Erfahrung, die ich dann machte, ist schwer zu beschreiben. Es war, als sei das letzte Band, das mich noch mit der DDR verband, zerschnitten worden. Erst mit meiner innersten Entscheidung, der DDR den Rücken zu kehren, gab ich ihr den Rest. Bis dahin hatte ich letztlich meine Perspektive immer noch in einer wie auch immer gearteten DDR gesehen, nun war sie mir egal geworden. Und ich fühlte mich plötzlich frei und an keine Rücksichten mehr gebunden. Ich verstand jetzt besser, warum die große Zahl an Ausreisantragstellern, die in der DDR nur noch auf Abruf lebten, zu so kreativen Protestmaßnahmen wie den Botschaftsbesetzungen in der Lage waren, oder warum sie immer einen so großen Anteil an Protesten gegen die SED aller Art nahmen. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Jede Aktion gegen die DDR war eine mehr zur Bewilligung ihres Ausreisantrages, zum Verlassen der DDR, ja zu ihrem Ende mit der DDR. Dies war jetzt auch meine Haltung. Ich gehörte nicht mehr dazu. Ich hatte mich freigemacht von der DDR. Und ich war gleichzeitig noch da, ein Mensch, der in der DDR lebte, in ihr groß geworden war, ich fühlte mich DDR-geprägt. Ich konnte mich mit gutem Gewissen DDR-Bürger nennen, allerdings ohne den von der SED damit erhofften Stolz. Ich schämte mich der DDR nicht. Ich hatte sie nicht zu verantworten. Wenn ich mich für irgendetwas mit-verantwortlich fühlte, dann für die Gestaltung ihrer Zukunft.

Von meiner Westreise wieder in den Osten zurückgekehrt, ein unbeschreibliches Gefühl, das zu schildern ich an dieser Stelle gar nicht erst versuchen will, fand ich auf dem Schreibtisch meines Vater den Aufruf zur Gründung einer sozialdemokratischen Partei vor. Er hatte ihn da einfach so zu liegen. Es war, als sollte ich ihn lesen.

Diesen Moment vergesse ich mein Lebtag nicht mehr. Dieser Aufruf war eine Offenbarung. Mit allen meinen Wünsche fand ich mich, all mein politisches Sehnen fand sich hier wieder: repräsentative Demokratie, freie Wahlen, Rechtsstaat, Menschenrechte, soziale Marktwirtschaft, Wiederherstellung der alten Länder. Die Autoren wollten etwas, was ich eigentlich auch immer gewollt , mich aber nie öffentlich zu sagen getraut hatte. Sie wollten leben in der DDR, als ob sie ein westlicher Staat sei. Sie wollten die DDR verwestlichen, sie wollten sie zu einem Mitglied der demokratischen Staatengemeinschaft machen. Und sie hatten den Mut, das öffentlich zu sagen. Sie hatten den Mut, alle gleichgesinnten Menschen in der DDR aufzurufen, gemeinsam mit ihnen eine Partei zu gründen, die sich allein und in erster Linie diesem Ziel verschrieb, eine sozialdemokratische Partei. All mein Ärger über die West-SPD und ihr Umschmeicheln der SED war mit einem Mal verflogen. Aber, und das war viel wichtiger, meine Geringschätzung gegenüber der intellektuellen Schwäche der DDR-Opposition war angesichts dieses Papieres gegenstandslos geworden. Denn es kam aus der Mitte dieser Opposition. Es kam von Leuten, die nicht nur Mut und Courage hatten, sondern auch über eine gehörige Portion intellektueller Schärfe verfügten, die analysieren, politisch handeln konnten, die keine Schwärmer waren oder Phantasten, sondern Realisten. Sie griffen zurück auf eine im damaligen linken Potential der Opposition eigentlich als überlebt geltende Institution, sie wollten eine Partei gründen; nicht gerade der große Reißer. Aber sie wollten eben auch dem Westen in der DDR zum Durchbruch verhelfen. Größer konnte die Kampfansage an die SED gar nicht sein. Wenn das gelänge, bräuchte ich nicht mehr, bräuchte niemand mehr auszureisen. Dann konnte man den Westen in der DDR haben.

Die Lektüre dieses Aufrufes veränderte etwas in mir. Mir rann ein Schauer über den Rücken; wegen der Kühnheit der Gedanken, des politischen Willens, wegen der intellektuellen Schärfe, und wegen des Anflugs von Realpolitik, die diesem Papier inne wohnte. Denn nur in der Realpolitik, und zwar nicht in ihrem asketischen Verständnis als der Kunst des Möglichen, sondern an der Realität orientiert und auf sie bezogen, vermag man zu handeln, hat man die Möglichkeit, seiner Verantwortung gegenüber seiner Zeit und den Mitmenschen gerecht zu werden. Ein Wunsch stieg in mir auf: hier willst Du mitmachen. In diesem Moment wurde ich Sozialdemokrat.

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