Die SDP und die Kirche

Obwohl in der SDP viele Pfarrer und Theologen saßen, alleine unter den mehr als 40 Gründungsmitgliedern befanden sich etwa 7 Pfarrer, war diese Partei alles andere als ein Ableger der Kirche, erst recht nicht ihr politischer Arm.

Das Verhältnis der evangelischen Kirche zur Friedensbewegung, die sich unter ihrem Dach entfaltet hatte, war ambivalent. Zum Teil waren ihr diese alternativen, jungen Leute suspekt, ihre Kultur etwas fremd, zum anderen war sie stolz auf diese neue, attraktive Form von kirchlicher Arbeit, die junge Leute zur Kirche brachte und manche Kirche wieder füllte. Das war in der Zeit der von Staats wegen durchgeführten Säkularisierung nicht selbstverständlich und erfüllte auch die SED mit Grauen, denn ihre Gleichschaltungspolitik drohte gleich an zwei Stellen zu scheitern. Zum einen wurde sie mit der Kirche nicht fertig, deren Religion sie ausdörren und überwinden wollte, zum anderen wurde die Kirche zu einem politischen Betätigungsfeld von Menschen, die sie eigentlich in die von ihr gleichgeschalteten gesellschaftlichen Institutionen pressen wollte. Hier erwies sich die lange Standhaftigkeit, die die Kirche gegenüber dem staatlichen Druck seit der sowjetischen Besetzung an den Tag gelegt hatte, auch als Vorteil für diese neue Form von Opposition, die sich erst seit dem Mauerbau in der DDR entwickelt hatte.

Sie hatte sich entlang dem Thema ›Frieden‹ organisiert, während der Begriff von der SED und der kommunistischen Ideologie immer propagandistisch und geradezu inflationär gebraucht wurde, obwohl er auch für ein christliches Selbstverständnis unverzichtbar ist. Folgerichtig stießen hier zwei Welten zusammen. Und das Verdienst der Friedensbewegung in der DDR besteht darin, dass sie es verstand, diesen Begriff der SED wieder zu entreißen.

Für die kommunistische Ideologie ist der Kommunismus Frieden schlechthin, aber erst mit der Überwindung von Kapitalismus und Imperialismus, die es also zu überwinden galt, revolutionär, wenn es sein musste, auch mit kriegerischen Mitteln. So hatte das ja Stalin vorexerziert. Er strebte die Weltrevolution an, wie Lenin oder Trotzki auch, und sie schreckten dabei nicht mal vor Bürgerkrieg zurück, wie es übrigens auch die deutsche KPD unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht tat. Das kommunistische Paradies, die Konklusion der kommunistischen Weltanschauung war so viel mehr wert als das bisschen Blutvergießen – eine echt revolutionäre Gesinnung.

Demgegenüber ist Frieden für das christliche Selbstverständnis ein Begriff, in dessen Zentrum die Nächstenliebe steht. Frieden durch Nachfolge, durch Schuldanerkenntnis, ja durch Schuldübernahme, selbst dort, wo es nicht die eigene ist. Diese Haltung, den Christen vorgelebt von Christus selbst, der bekanntlich damit am Kreuz landete, ist die Voraussetzung für eine Gesellschaft, in der Mitmenschlichkeit ihren Platz hat, womit ein Christ Frieden finden kann; also nicht Feindschaft und Hass oder die kommunistische Schuldabwehr, sondern Feindesliebe und Schuldübernahme.

Die ersten Friedensseminare, die sich unmittelbar nach dem Mauerbau im sächsischen Erzgebirge organisierten, stellten folgerichtig die Frage, wie dieser Frieden unter den Bedingungen der vollständig abgeschotteten DDR gelebt werden konnte. Diese Frage hatte eine erhebliche politische Dimension, die darin bestand, dass sich hier ein ganzes Milieu entwickeln würde, das nicht nur den staatlichen und ideologischen Versuchungen widerstehen wollte, sondern auch nach öffentlichen, nach politischen Formen des Widerstandes in der DDR Ausschau hielt. Es mussten Formen sein, die unter den stalinistischen Repressionsbedingungen nicht zu einer Vernichtung der Aktivisten führen und trotzdem öffentlich vernehmbar sein würden. Und es musste ein Weg aufgezeigt werden, der sinnvoll zu begehen war und nicht an dem langen Atem, den man dafür brauchen würde, scheitern durfte.

Da die innere Haltung dafür von Anfang an eine christliche war, war es nur logisch, dass sich ihre Apologeten innerhalb der kirchlichen Strukturen fanden und vor allem zusammenfanden. Sie brauchten nicht unter das Dach der Kirche zu schlüpfen, wie manch ein Oberkirchenrat naserümpfend kritisierte. Sie waren schon da. Es waren ihre Gemeindemitarbeiter, Diakone, vor allem Pfarrer, die ihr Selbstverständnis in ihrer Kirche lebten. sie waren Fleisch vom Fleische der Kirche, die sie folgerichtig nicht instrumentalisierten, da sie ihre religiöse Heimat war.

Diese Art von Friedensbewegung hatte auch einen Erneuerungseffekt für die Kirche selbst. Ihre Werte waren nicht neu, es waren die gleichen, die seit Jahrhunderten von der Kirche hochgehalten wurden, aber auch die gleichen, unter deren Zeichen die Kirche auf Abwege gekommen war. Einer der fürchterlichsten Abwege war die deutschchristliche Bewegung, die es den Nationalsozialisten möglich machte, auch die evangelische Kirche gleichzuschalten. Es war nicht der einzige Abweg und es sollte nicht der letzte sein.

Die Kirche in der DDR hatte anfangs sehr auf Widerstand gegen die SED-Diktatur gesetzt. Eingedenk der schlimmen Erfahrungen, die sie mit der ersten Diktatur gemacht hatte, wollte sie diesmal an der Seite der unterdrückten Menschen sein, wollte diese Menschen in ihrem Widerstand bestärken. Und so geißelte der beeindruckende Bischof Otto Dibelius in den 50er Jahren von der Kanzel der Ost-Berliner Marienkirche Sonntag für Sonntag die repressiven Zustände der stalinistischen DDR. Diese Haltung aber konnten nicht alle Christen mittragen, die Last war zu schwer, die Verluste waren zu groß. Sie gaben auf und resignierten, wie es die Auseinandersetzungen um die Jugendweihe in den 50er und 60er Jahren zeigten. Und an der Seite dieser Menschen war die Kirche nicht. Im Gegenteil, nach der staatlichen Repression folgte hier die kirchliche Strafe. So führte der politische Widerstand, die politische Gegnerschaft zum SED-Kommunismus in eine Entchristlichung der Gesellschaft in der DDR, die in Deutschland einmalig war, deren Folgen lange nachwirken werden und sich heute in Ostdeutschland gut studieren lassen.

Angesichts der Verluste dieser harten, von Dibelius autoritär vorgelebten, wenn auch beeindruckenden und gradlinigen Haltung gegen den DDR-Staat entwickelte sich in der Kirche ein neuer politischer Ansatz, dessen Apologeten zuerst der Thüringer Bischof Mietzenheim, ab den 60er Jahren bis zum Schluss der DDR der diese Politik bestimmende Konsistorialrat Stolpe wurden. Beide anerkannten die Macht der SED, sie nahmen sie nicht nur hin, sie respektierten nicht nur die politischen Realitäten, sondern sie versuchten sich damit zu arrangieren, in der Hoffnung, durch Deeskalation gegenüber der staatlichen Macht nicht nur Ruhe zu bekommen, sondern auch partiellen Einfluss innerhalb der DDR zu gewinnen. Der SED kam diese Haltung entgegen, denn sie versprach sich davon einen Sieg über die Kirche. Und so stärkte sie die Rolle ihrer Vertreter innerhalb der Kirche, z.T. offen, z.T. konspirativ. Was ›offen‹ bedeutete, konnte man an der Vereinbarung über die Rentnerreisen nach Westdeutschland studieren. In einem Gespräch mit Mietzenheim zu Beginn der 60er Jahre verkündete Ulbricht dieses Entgegenkommen der DDR, wonach alle Werktätigen der DDR, die das Rentenalter erreichten, nicht nur in den Westen reisen, sondern auch ausreisen durften. Diese Maßnahme, die das Altwerden in der DDR versüßte, kostete die SED nur ideologisch etwas, aber im Gegenzug entspannte es die Ökonomie, denn ausgereiste Rentner belasteten die eigene Rentenkasse nicht mehr, und reisende Rentner unterstützten die DDR-Volkswirtschaft mit westlichem Konsum. Wie dem auch sei, Mietzenheim beanspruchte nun öffentlich, mit diesem Kurs einen besseres Verhältnis zum DDR-Staat gefunden zu haben, eine Belohnung für die Aufgabe der Gegnerschaft, einen Akt menschlicher Erleichterungen für die Bürger der DDR, also eine durchaus christliche Mission.

Mit Stolpe, der diese neue Erfahrungen in eine ganz neue Theorie und politische Strategie goss, wurde diese Haltung zunehmend in die Leitung der evangelischen Kirche in der DDR getragen. Sie gipfelte in der Auflösung der Evangelischen Kirche in Deutschland und in einer innerkirchlichen Politik, die zunehmend das eigene innerkirchliche, Protestpotential einerseits kontrollieren, andererseits einzudämmen trachtete. Sie schreckte auch vor einer Diskriminierung der eigenen Kirchenvertreter in der Öffentlichkeit nicht zurück, wie man bei der Einweihung des Greifswalder Doms und der Selbstverbrennung des Pfarrer Brüsewitz studieren konnte.

Um Anpassung alleine ging es Stolpe nicht, er wollte Macht in der DDR, die er an der Seite der SED zu gewinnen hoffte, und er sanktionierte diese Politik mit den vielen Hilfsleistungen für unter Druck geratene christliche Mitbürger in der DDR, die er den staatlichen Strukturen im Gegenzug abringen konnte. Gleichzeitig aber gab er für das christliche Selbstverständnis unverzichtbare Werte auf. So wollte er nur für Christen zuständig sein. Er unterstrich Ähnlichkeiten zwischen kommunistischen und christlichen Werten und rückte so die Kirche auch ideologisch in die Nähe des sozialistischen Staates. Von Widerstand war hier nicht mehr die Rede. Im Grunde verstand sich Stolpe immer politisch, er wollte zum staatlicherseits anerkannten Interessenvertreter der Bürger gegenüber dem Staat werden, eine Rolle, die mit Kirche nichts mehr zu tun hat, aber der Institution Kirche eine neue Bedeutung geben sollte. Das war ein Schritt zurück zu vormodernen, ja geradezu mittelalterlichen Zuständen, zu einem Selbstverständnis auch der wilhelminischen Ära, als die Nachbarschaft von Thron und Alter zelebriert wurde und im Kaiser ihr persönliches Symbol fand.

Es ist klar, dass eine solche Haltung von den oppositionellen Gruppen in der Kirche nicht akzeptiert werden konnte, ja als Kumpanei mit dem verhassten Staat, gegenüber dem man sich behaupten musste und den man eigentlich überwinden wollte, empfunden wurde. Manche sprachen sogar von den zwei Obrigkeiten, deren man sich erwehren musste.

Erst recht ist klar, dass eine solche Haltung für die SDP in keiner Weise akzeptabel war. Und, was noch wichtiger ist, mit ihrer Strategie der Demokratisierung der DDR, ihrem Zurückholen in die Moderne, wurde dieser Art von Kirchenpolitik der Boden entzogen. Die Kirche wurde auf ihre alte Rolle zurückgeworfen, musste sich wieder neu fragen, was ihre Rolle in einer modernen, offenen Gesellschaft eigentlich sein sollte. Insofern haben die vielen Pfarrer mit ihrem Engagement in der SDP nicht nur der Demokratisierung der DDR den Weg bereitet, sondern auch ihre eigene Kirche befreit von einem anachronistischen Selbstverständnis. Vielleicht ist das der Grund, dass manch ein Pfarrer, der in die Politik ging, nicht eben freundlich von seiner »Mutter« Kirche dabei begleitet wurde.

Die Kirche aber zog sich 1989 noch nicht zurück. Sie versuchte ihre politische Rolle weiter auszubauen, was ihr angesichts der Sympathiewelle nicht schwerfiel, die ihr entgegenschlug, weil sie zu einer der großen Bühnen der friedlichen Revolution wurde, was natürlich die Folge der Arbeit der vielen oppositionellen Gruppen innerhalb der Kirche war und nicht der Anpassungspolitik à la Mietzenheim und Stolpe. Die Kirche versuchte also weiterhin gerade in der beginnenden friedlichen Revolution ihre neue politische Rolle als Interessenvertreter der unterdrückten Bevölkerung auszufüllen.

Doch für die SDP war das nicht akzeptabel. Die SDP brauchte keinen Transmissionsriemen. Sie konnte selber sprechen. Sie brauchte keinen Vermittler, sondern verstand sich selbst als politische Kraft, als Interessenvertreter. Das machte ich in einem Brief an die Leitung der evangelischen Kirche in der DDR kurz nach meiner Wahl zum ersten Sprecher deutlich. Interessanterweise lehnte es der Vorstand der SDP ab, diesen Brief als Vorstand zu zeichnen.

Und die SDP widerstand auch dem Werben um ein Mandat für Verhandlungen mit dem Staat, welches Vertreter der Kirche von den neu entstandenen politischen Parteien und Gruppen erbaten. Und weil die SDP ein solches Mandat nicht erteilte, konnten die anderen neuen Gruppen dies auch nicht tun.

Diese kleinen Auseinandersetzungen beschäftigten uns im Oktober. Sie waren Teil des Paradigmenwechsels, der durch die SDP-Gründung ausgelöst wurde.

Später, vor allem nach dem Mauerfall, als die SED kapitulierte, verstanden die Kirchenoberen, was die Glocke geschlagen hatte. Plötzlich suchte auch Stolpe nach einer neuen Rolle. Er, mit seinem sicheren politischen Gespür, ließ bei der SDP anfragen, ob sie nicht einen Spitzenkandidaten für die unweigerlich anstehenden ersten freien Wahlen brauchen würde. Das mag in der Logik seines kirchlich-politischen Selbstverständnis gelegen haben. Er selbst hatte die SDP verunglimpft als Pfarrerpartei. Nun konnte er sich vorstellen, ihr Spitzenkandidat zu werden. Gutzeit und ich ließen gar nicht erst zu, dass diese Frage im Vorstand der SDP diskutiert wurde, und so zogen Anne-Kathrin Pauk, die frischgekürte SDP-Vorsitzende vom Berliner Stadtverband, und der spätere Chef der Bundeszentrale Politische Bildung, Thomas Krüger, im November ’89 unverrichteter Dinge wieder ab.

 

Nachtrag: Die SDP musste sich von Anfang an gegen den Vorwurf, Pfarrerpartei zu sein, verteidigen. Ich meine, sie kann stolz darauf sein, dass so viele Pfarrer bereit waren, sich in die SDP einzubringen, und sie zu unterstützen und zu stärken. Sie hatten Erfahrung und Bildung. Nicht wenig in der damaligen DDR.

Und nur wer in einer sozialdemokratischen Partei in erster Linie eine Arbeiterpartei, also die Rolle der SPD innerhalb der Arbeiterbewegung sieht, und nicht die Rolle, die diese Partei für die Verwirklichung einer sozialen Republik hatte und hat, kann den Gründern der SDP einen Vorwurf daraus machen, ohne sozialdemokratisches Milieu angetreten zu sein. Wie gesagt, Milieu ist eine Folge von Haltung.

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