Wirkung nach innen

Am Anfang war Gutzeit alleine. Er hatte bereits im Jahr 88 die Idee entwickelt, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Man muss ihn dabei erleben, wie er das manchmal erzählt. Beim Studium der Hegel’schen Rechtsphilosophie sei er auf den Dreh gekommen, wie man der SED-Herrschaft zu Leibe rücken könne. Ist es wirklich ein Vorwurf, bei der Gründung der SDP von Kopfgeburt zu sprechen? Geht sowas eigentlich anders? Auch die Gründung der ersten sozialdemokratischen Partei in Deutschland, dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, ist zuerst in den Köpfen von Ferdinand Lassalle und August Bebel entstanden. Politik braucht Ideen, braucht Phantasie, wie Eppler zu sagen pflegt, braucht also den Kopf. Ohne Intellekt und Bildung ist sowas nicht zu machen. Sie mögen manch einem im Wege stehen, sie dienen nicht selten zur Diskreditierung von Intellektuellen, und auch manch ein Schwachsinn ist ohne Bildung nicht denkbar, aber um wirklich politisch handeln zu können, sind Intellekt und Bildung unverzichtbar. Mehr zu diesem Thema nicht an dieser Stelle.

Gutzeit brauchte Partner. Der erste und wichtigste Partner war sein langjähriger Freund und Weggefährte, Studienkollege und Revoluzzer Markus Meckel. Die beiden sind zusammen durch dick und dünn gegangen, und bei allen Brüchen, die ihre Freundschaft hinter sich hat, wird sie wohl ein Leben lang halten. Wer Gutzeit kennt, weiß, dass er nicht zum Volkstribun taugt. Das ist bei Meckel nicht so. Und so übernahm er die Propagierung dieser Idee.

Bereits im Januar 1989 bei einem Treffen von »Frieden konkret« in Greifswald informierte er die dort landesweit versammelten Vertreter faktisch der gesamten Friedensbewegung und der oppositionellen Gruppen in der DDR über den Plan, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. Es ist legendär, wie die ihn haben abblitzen lassen. Die Absicht, hier Mitstreiter zu gewinnen, lief ins Leere. Ein Bruch zeichnete sich ab. Denn Meckel und Gutzeit waren bisher hoch angesehene Mitstreiter in der oppositionellen Szene gewesen. Das blieben sie wohl auch, aber ihrer Vorstellung einer sozialdemokratischen Partei vermochten die übrigen oppositionellen Vertreter nicht zu folgen. Das mag verschiedene Gründe gehabt haben. Vor allem hatte es Folgen.

Eine der Folgen hat darin bestanden, dass die Oppositionellen, die als erste über dieses Vorhaben informiert war, sich nun selber neu bestimmen mussten. Auch ihnen war ja klar, dass es mit der bisherigen, informellen, d.h. lockeren Organisationsart so nicht weitergehen konnte. Auch ihnen war klar, dass es in der DDR gärte, dass etwas möglich wurde. Und auch ihnen war klar, dass die Öffentlichkeit nach Orientierung verlangte. Wollte sie nicht ins Abseits geraten, musste sie sich etwas einfallen lassen. Ideen und Überlegungen, sich verbindlicher und öffentlicher zu strukturieren, das Dach der Kirche ganz bewusst zu verlassen und politischer zu werden, hatte es bereits vorher gegeben. Jetzt aber entstand Handlungsdruck. Und so ist es kein Zufall, dass jetzt verstärkt nach neuen politischen Daseinsformen gesucht wurde. Das ist der politische Hintergrund für die Gründungen die nun geplant wurden, wie »Neues Forum«, »Demokratie Jetzt», »Demokratischer Aufbruch«. Jede dieser Gruppen, die später im Volkskammerwahlkampf aus Kampagnegründen zum Bündnis 90 zusammengefasst wurden, hatte seine eigene Vorgeschichte, und sein eigenes Konzept. Doch keine war bereits im Januar ’89 so weit, dass sie hätte diskutiert werden können.

Natürlich war auch die Stasi informiert, denn was in »Frieden konkret« besprochen wurde, war für ihre konspirativen Ohren quasi öffentlich. Aber an die Öffentlichkeit selbst gelangte die Idee der SDP damals noch nicht, auch nicht in die westliche.

Das passierte erst mit der Vorstellung des Gründungsaufrufs, passend anlässlich eines zweitägigen Seminars, welches mein Vater als Vorsitzender des Gesprächskreises »Philosophie und Theologie« beim Bund der evangelischen Kirche in der DDR, in seiner, meiner Golgatha-Gemeinde in der Berliner Borsigstraße durchführte und das sich mit dem Thema ›Menschenrechte‹ beschäftigte. Es fand an einem symbolträchtigen Tage statt, dem 26. August 1989, dem zweihundertsten Jahrestag der Verkündung der Menschenrechte im Zusammenhang mit der Französischen Revolution 1789.

Dieser Aufruf war eine klar erkennbare Kampfansage an die SED-Diktatur, die als solche auch den Nichtsympathisanten bewusst war. Niemand in der DDR war bisher so weit gegangen. Damit stand für jeden, der die DDR verändern wollte, eine Orientierung im Raum, an der sich seine eigenen Ideen messen lassen mussten. Die bisherige Fehlstelle, nicht über eine echte politische Alternative zur SED-Diktatur zu verfügen oder sie nur sehr verschwommen anzudeuten, war gestern. Jetzt standen hier ein paar Leute, vier an der Zahl hatten den Aufruf unterschrieben, und sagten, wo sie hin wollten: Diktatur weg, politische Freiheiten und Grundrechte her, freie Wahlen, demokratischer Rechtsstaat, soziale Marktwirtschaft, Wiederherstellung der alten Länder, westliche Verhältnisse in der DDR.

Dieser Aufruf war ein Signal, das einerseits Handlungsdruck bei allen erzeugte, die sich selber als politische Kraft in der DDR verstanden, die für sich und ihre Bewegung eine Zukunft haben wollten. Und es war ein Signal an den empörten, unruhigen, zum Aufruhr bereiten Teil der Bevölkerung, der nun wusste, dass es Leute gab, die ein politisches Ziel vor Augen hatten. Und dieses Ziel, nämlich westliche Verhältnisse, war wohl etwas, mit dem sich damals mehr als achtzig Prozent der Menschen in der DDR identifizieren konnten.

Und natürlich wurde dieses Signal auch in der SED vernommen. Große Teile der Basis sympathisierten ja mit Gorbatschow und verstanden ihre stalinistische Führung nicht mehr. Nun tauchten da Sozialdemokraten auf, die viel näher bei Gorbatschow waren als Honecker und Co. Dies verstärkte die Widersprüche in der SED erheblich. Nicht zuletzt wirkte jetzt auch ein geschichts-ideologischer Widerspruch. Denn die SED-».. Einheitspartei..« verstand sich als die Arbeiterpartei schlechthin, die auch ihre sozialdemokratischen Traditionen verkörperte. Eine selbstständige sozialdemokratische Partei war ein Angriff auf dieses geschichts-ideologische Selbstverständnis, das in weiten Kreisen keineswegs nur als Propaganda verstanden wurde. Der SED erodierten die Grundlagen.

Und natürlich gab es auch einen Handlungsdruck bei den Blockparteien, also CDU-Ost, NDPD, LDPD und Bauernpartei. Sie existierten ja nur im Handlungsrahmen der Nationalen Front, organisiert und garantiert von der SED. Dies kam jetzt alles ins Rutschen. Das war es zwar auch schon vorher, aber der Rutschprozess nahm Fahrt auf. Wenn diese Blockparteien überleben wollten, mussten sie sich etwas überlegen. Aufmüpfig waren sie vorher schon, wie z.B. Gerlach von der LDPD, doch nun brauchten sie neue Strategien.

Wo sollten sie hin? Die alte DDR bewahren? Sozialismus mit menschlichem Antlitz? War nicht für jeden klar, dass das in Sichtweite kommende Ende der SED-Diktatur Fragen nach Demokratie und Deutscher Einheit stellte? Doch wie sollte die aussehen, wenn nicht westlich? All diese Kräfte hatten im Grunde keine Wahl, wenn sie überleben wollten.

Und so hat alleine die Propagierung einer sozialdemokratischen Partei und der eingeleitete Prozess zu ihrer Gründung die DDR mehr in Fahrt gebracht, als die SED es je für möglich gehalten hatte, was zu großen Hoffnungen in der Bevölkerung führte.

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