Die Verträge

Unterdessen hatten die Viermächte-Gespräche über Berlin bereits am 26. März 1970 begonnen und es gab bereits Verhandlungen des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen mit seinem östlichen Pendant am 29. April des Jahres. Auch die Verhandlungen der Siegermächte konnten im September 1971 zu einem Abschluß gebracht werden. Dieses Viermächte-Abkommen war als Rahmenvereinbarung zu verstehen, als Fragen des Transitverkehrs von zivilen Personen und Gütern zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik »von den zuständigen deutschen Behörden« erst noch zu realisieren waren, bevor das Abkommen in Kraft treten konnte. (Dokumentation, S.417ff.) Schließlich bestand eine Aufforderung durch die ehemaligen Kriegsalliierten an die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR, unverzüglich Verhandlungen aufzunehmen.

Das Bundeskabinett hatte Bahr bereits am 3. September ermächtigt, mit Vertretern der DDR ein »Abkommen zwischen den beiden Staaten über die Verbesserung des Verkehrs und die Schaffung günstiger Bedingungen für die Verkehrsteilnehmer« zu schließen. Am 6. September begann die erste Verhandlungsrunde. Der Verkehrsvertrag konnte am 17. Dezember 1971 in Bonn unterzeichnet werden. Er besaß in einer bestimmten Beziehung eine deutlich andere Qualität als die Verträge, die noch mit der DDR auszuhandeln waren. Im Viermächte-Abkommen hatten die Kriegsalliierten den beiden deutschen Staaten nämlich detailliert vorgeschrieben, worüber sie zu verhandeln hatten und auch, zu welchem Ergebnis sie kommen sollten. Streitfragen konnte es daher nicht geben, da die Vier Mächte bereits Definitionen für strittige Begriffe vorgegeben hatten: Was z.B. die grundsätzliche Frage des »Transit« anging, so war dieses Problem im Text des Abkommens schon gelöst. Die DDR, die auf diese Weise tatsächliche Souveränitätsverluste iıı Kauf nehmen mußte, sah sich bereits im Vorfeld des Berlin-Abkommens der Vier Mächte vor allem auch von ihrem eigenen Verbündeten, der UdSSR, übergangen: »In übertriebener Empfindlichkeit sah Ost-Berlin im Vier-Mächte-Abkommen (...) eine ähnliche Demütigung wie seinerzeit Prag im Münchner Abkommen.« (Baring 1982, S.458) Ulbricht, der dies wohl offen gegenüber der sowjetischen Führung kundtat, mußte wegen seiner Querköpfigkeit, wie Brandt es bezeichnete, zurücktreten und wurde durch Erich Honecker in seinen Ämtern ersetzt.

Ein weiterer allgemeiner Verkehrsvertrag wurde am 26. März 1972 unterzeichnet. Bahr und Kohl konnten nun an das Hauptwerk ihrer Verhandlungen herangehen, die Erörterungen über einen Grundlagenvertrag, der die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten nun grundsätzlich regeln sollte, nachdem die Teilverträge gezeigt hatten, daß Verhandlungen in sachlicher Atmosphäre zu Ergebnissen führen konnten. Das Bundeskabinett gab Egon Bahr, der wiederum mit der Führung des Meinungsaustausches beauftragt wurde, folgende Vorgaben mit auf den Weg: Ausgegangen werden sollte von den Grundsätzen, die Willy Brandt bereits bei seinem Treffen mit Willy Stoph in Kassel vorgetragen hatte. Das Recht auf Selbstbestimmung der Deutschen und die Einheit der Nation mußten in die Verhandlungen eingebracht werden. Die Menschenrechte, die Entspannung, der Gewaltverzicht und die gegenseitige Nichteinmischung sollten, gleichberechtigt, Bestandteil eines Vertragswerkes werden. Klar sollte folgendes zum Ausdruck kommen: Die Verantwortung der Vier Mächte und der Bezug zur Charta der Vereinten Nationen.

Die entscheidenden Verhandlungen begannen am 15. Juni 1972. Bahr hatte erneut Michael Kohl zum Gesprächspartner, der mit ihm bereits die vorher unterzeichneten Teilverträge ausgehandelt hatte. Kohl präsentierte gleich bei diesem ersten Treffen einen fertigen Vertragsentwurf, der sich nach einer Analyse des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen als »überraschend positiver Ansatz« erwies: Es erschien möglich, »in Verhandlungen für beide Seiten annehmbare Formulierungen bei den meisten der von der DDR vorgelegten Elemente zu erreichen.« Die Vorbedingungen, die von Kohl geäußert wurden, entpuppten sich beim dritten Treffen am 28. Juni 1972 als Extrempositionen, die von Kohl mit einem Angebot zur Aufnahme von sofortigen Verhandlungen bis auf weiteres zurückgenommen wurden. Diese Vorbedingungen bestanden in der beiderseitigen sofortigen Beantragung der VN-Mitgliedschaft sowie im Austausch von Botschaftern. Dieser Tempo-Vorstoß, sofortige Verhandlungen ohne Vorbedingungen, kam für Bahrgänzlich. unerwartet. Ohne einen Kabinettsbeschluß konnte er nicht in Verhandlungen eintreten. Es wurde eine Vertagung bis zum August vereinbart.

Am 9. August erhielt Bahr vom Bundeskabinett Richtlinien, die nun für Verhandlungen, nicht nur für Gespräche, mit der DDR galten. Diese waren im innerdeutschen Ministerium ausgearbeitet worden. Der auszuhandelnde Grundvertrag sollte ein Maximum der Möglichkeiten enthalten, die Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland bringen sollten. Diese hatten seit Beginn der sechziger Jahre im Mittelpunkt der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik gestanden. Einer realistischen Situationsanalyse entsprechend waren sie dem Ziel der Wiedervereinigung vorangestellt worden. Die Gültigkeit des Grundlagenvertrags sollte gleichwohl bis zum Abschluß eines Friedensvertrags gelten, der auch die deutsche Einheit zum Thema haben sollte. Die Richtlinien waren Ausdruck der politischen Prioritäten. Besonders betont wurden der Zusammenhalt der Nation, die Möglichkeiten einer praktischen Zusammenarbeit und die Erleichterungen, die man für die Menschen erzielen wollte.

Am 16./17. August 1972 wurden die Verhandlungen mit einer ersten Runde begonnen, die am 8. November bereits zur Paraphierung eines Vertragswerkes »über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik« führten. Die Geschwindigkeit, mit der die Verhandlungen geführt wurden, läßt sich vor allem durch das beiderseitige Interesse erklären, möglichst vor den anstehenden Bundestagswahlen zu einem Ergebnis zu kommen.

Egon Bahr wurde in der Kabinettssitzung am 7. November bestätigt, daß er seinen Verhandlungsauftrag erfüllt habe. Die Bundesregierung stimmte dem Entwurf des Textes für den Grundlagenvertrag zu und erklärte sich mit der Paraphierung einverstanden.

Der Vertrag enthielt eine Präambel, in der der Gewaltverzicht festgelegt und der Status quo anerkannt wurde, und in der die unterschiedlichen Auffassungen der beiden deutschen Staaten, auch zur nationalen Frage, dem Wunsch vorangestellt wurden, die Voraussetzungen für die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu schaffen.

Der Kasseler Grundsätzekatalog fand sich in den zehn Artikeln des Vertrags wieder. Dazu kam eine Erklärung zur Sicherung des Friedens, zur Abrüstung und Rüstungskontrolle und der Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Der Alleinvertretungsanspruch wurde in Artikel 4 außer Kraft gesetzt. Artikel 7 zeigt eine Fülle von Feldern der Zusammenarbeit auf, die in späteren Verträgen geregelt werden sollten. Als wesentliche konkrete Neuerung enthielt der Grundlagenvertrag in Artikel 8 die Verabredung zum Austausch ständiger Vertretungen. Dabei wurde vermerkt, daß praktische Fragen, die mit der Einrichtung von Vertretungen zusammenhingen, einer zusätzlichen Regelung bedurften.

Am 2l. Juni 1973 trat der Vertrag in Kraft, die Ständigen Vertretungen wurden am 2. Mai 1974 errichtet – Günter Gaus und Michael Kohl als Bevollmächtigte ihrer jeweiligen Regierung erhielten ihre Akkreditierung am 20. Juni 1974. Bezeichnenderweise, so hielt Brandt in seinen »Begegnungen und Einsichten« fest, wurde Gaus durch das Außenministerium der DDR akkreditiert, während diese im Falle Kohls durch das Bundeskanzleramt erfolgte.

Die Bundesregierung stellte in einem »Brief zur deutschen Einheit« an die Regierung der DDR klar, daß der »Vertrag nicht im Widerspruch zu dem politischen Ziel der Bundesrepublik Deutschland steht, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt«. (Texte, S.26) Auch bei den Staatsangehörigkeitsfragen machte die Bundesregie- l rung einen Vorbehalt geltend.

Eine weitere Erklärung betonte die Absicht, die »innerstaatlichen Voraussetzungen für die Antragstellung auf Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen« einzuleiten. Auch dafür war der Grundlagenvertrag, d.h. die Einführung geregelter Zustände im deutsch-deutschen Verhältnis, eine Voraussetzung.

Ein weiteres Zusatzprotokoll befaßte sich mit Artikel 7 des Grundlagenvertrages (Regelung von praktischen und humanitären Fragen). Zudem kündigte die Regierung der DDR Schritte an, die sie in den Bereichen des Reiseverkehrs, des nichtkommerziellen Warenverkehrs und zur »Lösung von Problemen, die sich aus der Trennung von Familien ergeben«, unternehmen wolle.

Alles in allem bestätigte der Grundlagenvertrag die Deutschlandpolitik der Sozialdemokratischen Partei. Diese hatte sie – von Berlin ausgehend – in den sechziger Jahren gegenüber der CDU/CSU in die politische Offensive gebracht und blieb auch zum Ende des Jahres 1972 das Kernstück ihrer Führungsrolle in der weitergehenden Konzeption und praktischen Durchsetzung deutschlandpolitischer Innovationen. Der Grundlagenvertrag war so angelegt, daß er einer konkreten Ausfüllung durch praktische MaRnahmen – zunächst in Form weiterführender Einzelverträge, insbesondere im Rahmen von Artikel 7 – bedurfte. Dies ist in den siebziger Jahren durchaus geschehen, wie die Bilanz der in Kraft getretenen Verträge und Abkommen auf den Gebieten des Reiseverkehrs und des Verkehrswesens, des Post- und Fernmeldewesens, der Wirtschaft und des Handels, des nichtkommerziellen Zahlungsverkehrs, der kulturellen Zusammenarbeit und anderer Bereiche mehr zeigen sollte. Dabei ging es den Sozialdemokraten – und sicherlich auch den Freien Demokraten – immer nur um ein geregeltes Zusammenleben im geteilten Deutschland, dessen Auseinandergerissenheit als vorläufig festgeschrieben anerkannt wurde und daher nicht als unaufhebbar zu gelten hatte.

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