von Richard Schröder

I

»Die Wege zum Kommunismus können wir nur finden, wenn wir uns auf den Weg machen und sie ausprobieren, ob in der Opposition oder in der Regierung.« Mit diesen Sätzen hat Gesine Lötzsch, Parteivorsitzende der Linken, erstmals richtig von sich reden gemacht, allerdings zu ihrem und ihrer Partei großem Schaden. Denn sie hat weder erklärt, was sie unter Kommunismus verstehen möchte, noch die Toten und den Terror im Namen des Kommunismus erwähnt. Klügere aus ihrer Partei, nämlich Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, sind ihr beigesprungen. Was taugen ihre Argumente?

Hier nehme ich mir nur Gregor Gysi vor. »Unter Kommunismus kann man Verschiedenes verstehen. Stalin, Marx, die Mauer etwa. Oder, was Marx meinte: eine Gesellschaft ohne Klassenunterschiede, in der Eigentum sozial gerecht verteilt ist und alle weniger arbeiten müssen, die Vision einer in jeder Hinsicht gerechten Gesellschaft« (TSP). »Karl Marx und Friedrich Engels stellten sich unter Kommunismus die gerechteste Gesellschaft vor« (DLF). Da sitzt er aber einem verbreiteten Irrtum auf. Nirgends haben sie den Kommunismus als gerechte Gesellschaftsordnung bezeichnet. Es gehört zu den Paradoxien des Marxismus, dass er für viele sensible Menschen aus moralischen Gründen attraktiv war, weil er die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus anprangere, aber Marx und Engels waren stolz darauf, eine Gesellschaftskritik zu vertreten, die Recht und Gerechtigkeit nicht, wie bis zu Proudhon üblich, zum Maßstab nimmt. Es gibt keine marxistische Gerechtigkeitstheorie.

Auch über sozial gerechte Eigentumsverteilung wird man bei Marx und Engels nichts finden. Hohn und Spott gießt Marx in der »Kritik des Gothaer Programms« über die Forderung nach »gerechter Verteilung des Arbeitsertrags« aus. Nur in einer ersten Phase des Kommunismus werde nach gleichem Recht verteilt. Das sei aber ein Missstand, weil die Menschen verschieden begabt und leistungsfähig sind. Ergo: »Es ist daher ein Recht der Ungleichheit seinem Inhalt nach, wie alles Recht.« Und was ist die Lösung dieses tatsächlich vertrackten Problems? Der Überfluss. Dieser soll durch Aufhebung der Arbeitsteilung und durch die Entfesselung der Produktivkräfte den Grundsatz ermöglichen: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Tatsächlich stellen sich Gerechtigkeitsfragen nur bei knappen Gütern. Es gibt aber leider unaufhebbar knappe Güter. Engels: »In einer Gesellschaft, wo die Motive zum Stehlen beseitigt sind, … wie würde da der Moralprediger ausgelacht werden, der feierlich die ewige Wahrheit proklamieren wollte: Du sollst nicht stehlen.« Lächerlich macht sich wohl eher derjenigen, der eine Gesellschaft ohne Motive zum Stehlen für möglich hält. Marx und Engels waren stark in der Kritik des Kapitalismus, aber schwach und manchmal erschreckend weltfremd in ihren wenigen Andeutungen zur Alternative, dem Kommunismus.

Der Kommunismus war für sie auch keine ›Vision‹, wie Gysi behauptet.

Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufheben wird...
(Deutsche Ideologie)

Die wachsende Verelendung des Proletariats und der wachsende Konzentrationsprozess des Kapitals werden dazu führen, dass die Produktivkräfte die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse sprengen und den gesellschaftlichen Reichtum entfesseln, nämlich in den führenden Industriestaaten.

Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig möglich.

So war es gedacht. Es kam aber anders. Gewerkschaften erkämpften Lohnerhöhungen. Die Arbeiter wurden als Kunden für Massengüterproduktion wirtschaftlich interessant. Der Staat regulierte durch Arbeitsrecht die Arbeitsbedingungen, er schuf Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung. Und das allgemeine Wahlrecht verschaffte den Arbeiterparteien politischen Einfluss. Auf Seiten des Kapitals gab es zwar Konzentrationsprozesse, es entstanden aber auch immer wieder neue kleinere Betriebe. Der Staat schützte die Konkurrenz durch Monopolverbot. Und der wissenschaftlich-technische Fortschritt forcierte Spezialisierung und Arbeitsteilung statt sie aufzuheben.

All dies führte sozialdemokratische Theoretiker in den Industrieländern dazu, die Marx’sche Theorie aufgrund neuer Einsichten zu revidieren. Das veranlasste Lenin, den Ketzernamen ›Revisionismus‹ zu erfinden und eine Marx-Orthodoxie zu installieren, die das Wort Kommunismus, seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts fast in Vergessenheit geraten, wiederbelebte und nach der Oktoberrevolution (in einem Agrarland!) zum Namen von Parteien erhob, die sich vor allem von der Sozialdemokratie abgrenzten. Der wichtigste Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten betraf den Weg zu einer besseren Gesellschaft. Die Sozialdemokraten – und der späte Engels – akzeptierten die parlamentarische Demokratie, die Kommunisten dagegen (auch Rosa Luxemburg!) lehnten sie als bürgerliche Scheindemokratie ab und protegierten die »Diktatur des Proletariats«. Gysi lehnt diese zwar ausdrücklich ab. Aber mit dem, was er zugunsten von Marx vorbringt, wandelt er ahnungslos über Abgründen. Marx habe doch die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit gemeint, während bisher eine Minderheit über die Mehrheit geherrscht habe (DLF). Das ist zwar richtig, aber Diskriminierung, Ächtung oder gar Lynchjustiz durch die Mehrheit sind schlimmer noch als die Tyrannei einer Minderheit, denn sie machen unendlich einsam. Grundrechte und Menschenrechte sollen auch vor der Mehrheit schützen – und vor dem Staat. Aber das haben weder Marx noch die Kommunisten je begriffen, obwohl doch unter Stalin viele Kommunisten dieses schreckliche Ausgeliefertsein selbst erlebt hatten!

Unter Kommunismus, sagt Gysi, hätten Marx und Engels eine Gesellschaft verstanden, in der »alle weniger arbeiten müssen.« Ob das bei Facharbeitermangel und wachsender Rentnerzahl bei uns heute überhaupt möglich ist, ist die eine Frage. Die andere: ob dergleichen überhaupt wünschenswert ist. Dass mehr Freizeit auch mehr Freiheit bedeutet, ist ein verbreiteter Irrtum von Schlaraffenlandniveau. In Wahrheit leiden Arbeitslose sehr oft unter zu viel Freizeit und freuen sich keineswegs darüber, dass sie endlich Zeit haben für die anspruchsvolleren Tätigkeiten, um Künstler, Dichter und Denker zu werden, wie Marx das für die wachsende Freizeit erwartet hatte. Sie hängen vorm Fernseher. Sie konsumieren statt zu produzieren. Und manche, die sich lebenslang gefreut haben, als Rentner unbegrenzte Zeit für ihr Hobby zu haben, haben nach wenigen Wochen von ihrem Hobby die Nase voll. Der Beliebigkeit der Hobbys eignet ein Hauch von Nichtigkeit. Da erwacht der Wunsch nach echter Arbeit, bei der man weiß, warum und wozu man sie tun muss. Freiheit als Freizeit zu Beliebigem, das ist bloß ein Sklaventraum. Wer wirklich (und auch innerlich) frei ist, möchte etwas tun, das getan werden muss, zum Beispiel den Enkel vom Kindergarten abholen oder bei übergroßer Hitze den Straßenbaum gießen.


II

Oskar Lafontaine ist seiner Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und ihren verunglückten Kommunismus-Sprüchen zur Seite gesprungen mit dem Argument: der Kommunismus kommt doch schon in der Bibel vor, warum also diese Aufregung? Was ist dran an diesem Argument?

In der Apostelgeschichte (2,44; 4,32) heißt es von der judenchristlichen Jerusalemer Urgemeinde:

Aber alle, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hielten alle Dinge gemeinsam. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jemandem not war.

›Communis‹ heißt gemeinsam. Eine Art von Kommunismus war das also durchaus. Allerdings ging es jenen Judenchristen weder um eine gerechte Gesellschaftsordnung noch um Wohlstandsmehrung, sondern um Nächstenliebe und – Weltverachtung. Sie verhielten sich wie Auswanderer, die mit ihrer Heimat brechen. Sie rechneten mit dem baldigen Weltende und deshalb nicht mehr ökonomisch. Denn auf Dauer übersteigt die Miete den Verkaufserlös eines Hauses und die jährliche Ernte den des Ackers. Der Maßstab der Verteilung war: das Lebensnotwendige, also sozusagen Hartz IV. Die Judenchristen der Jerusalemer Urgemeinde wurden deshalb »die Armen« (Ebioniten) genannt. Als sie Paulus grünes Licht gaben für die Mission unter den Heiden (Griechen), trugen sie ihm auf, bei ihnen eine Kollekte für die Jerusalemer zu sammeln. Auch dieser karitative oder Liebeskommunismus wurde also bereits mit »Westgeld« subventioniert und zwar von solchen Christen, die sich nicht mittellos gemacht hatten. »Soll ein Christ geben, so muss er zuvor haben« (Luther). Die biblische Reichtumskritik hat vor allem zwei Pointen. Die Propheten kritisieren den Reichtum auf Kosten und zu Lasten der Armen. Und im Neuen Testament wird kritisiert, dass Menschen ihr Herz an ihren Reichtum hängen. »Haben als hätten wir nicht« empfiehlt Paulus.

Der Verzicht auf Privateigentum kehrt wieder im klösterlichen Armutsideal. Die Klöster sind das größte Experiment mit der Abschaffung des Privateigentums. Aber effektives Wirtschaften durch Gemeineigentum war nicht das Ziel der Klöster, sondern die Absage an das weltliche Leben (vita activa) zugunsten eines Lebens der Gottesliebe und Nächstenliebe (vita contemplativa). Sehr bald erregten deshalb Klöster Anstoß, deren Mitglieder nur formell arm waren, da ihre Klöster selbst sehr reich geworden waren, mit Karpfenteichen für die Fastenzeit. Deshalb kam es zu Klosterreformbewegungen und Protestgründungen, die das Armutsideal auch für den Orden selbst praktizierten, wie die Zisterzienser und später die Bettelorden. Reich waren jene anderen Klöster aber nicht durch die Effektivität des gemeinsamen Wirtschaftens geworden, sondern durch Schenkungen und – durch Ausbeutung Abhängiger. Insofern war diese Ökonomie des Gemeineigentums parasitär, ermöglicht durch solche, die nicht zur Gemeinschaft gehörten. Auch deshalb haben die Reformatoren vehement bestritten, dass das Klosterleben besonders gottgefällig sei und stattdessen jeden weltlichen »Beruf« als Berufung zum Gottesdienst im Alltag der Welt verstanden.

Im linken Flügel der Reformation hat jenes Wort aus der Apostelgeschichte noch einmal wörtliche Nachahmer gefunden, bei den Hutterern. Sie leben bis heute – größtenteils in Nordamerika - in kleinen landwirtschaftlichen Kommunen in Tracht und Technik nach der Väter Weise ohne Privateigentum, isoliert von ihrer Umgebung. Ihr Grundsatz lautet: »jedr gibt, wos’r konn und kriegt, wos ihm not ist«. Sie wurden übrigens im 17. Jahrhundert communistae genannt. Diese Kommunen sind nicht parasitär, weithin autark und ökonomisch stabil, dies aber unter der Voraussetzung einer kollektiv kontrollierten asketischen Lebensführung, die sich auf das Notwendige beschränkt, und das heißt Luxusverbot und Innovationsverbot. Zudem funktioniert diese Ökonomie nur in kleinen Gemeinschaften. Sobald eine dieser Kommunen diese Größe überschreitet, teilt sie sich.

Als dritter und jüngster Großversuch einer Gemeinschaft ohne Privateigentum an Produktionsmitteln sind die Kibbuzim der Einwanderer in Palästina/Israel zu nennen. Auch bei ihnen gehören zu den Bedingungen des Funktionierens eine gewisse asketische Grundeinstellung, der Gründer-Idealismus, der inzwischen stark zurückgegangen ist, und eine Limitierung der Größe. Heute sind viele hochverschuldet und erwarten Hilfe vom israelischen Staat. Die könnte er nicht leisten, wenn die gesamte israelische Gesellschaft ausschließlich in Kibbuzim organisiert wäre.

Wir sehen: wo die Idee des Gemeineigentums tatsächlich praktiziert worden ist, wurde sie nicht mit dem Ziel besonderer wirtschaftlicher Effizienz angestrebt, sondern als Minimalökonomie für eine Gemeinschaft, der es auf Wohlstand nicht ankommt. Und sie ist auf Gemeinschaften persönlicher Vertrautheit beschränkt. An jener asketischen Einstellung bleibt immer richtig, dass es im Leben Wichtigeres gibt als ökonomische Effizienz. Reichtum macht auch keineswegs immer glücklich. Aber damit ist noch nichts gesagt zu der anderen Frage, welche Art von Ökonomie, und also auch welche Eigentumsordnung denn die beste und wünschenswerte ist. Jeder kann ein ärmliches Leben wählen. Aber niemand sollte es anderen verordnen oder aufnötigen.

Unser Verhältnis zum Eigentum, also zu den Dingen, die wir zum Leben brauchen, wie Kleidung, Wohnung, Werkzeuge, Häuser, Straßen und Fabriken, ist wechselseitig. Sie dienen uns als Lebensmittel, aber auch wir müssen ihnen in gewissen Grenzen dienen, sie pflegen und erhalten, weil sie sonst verfallen und veralten. Das können aber nur Individuen oder definierte Gruppen leisten. Und so ist denn auch das »Volkseigentum« in Gestalt von Fabriken hoffnungslos veraltet und in Gestalt von Häusern verfallen.

Karl Marx hat bekanntlich für den Kommunismus die Formel gebraucht: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Geprägt hatte sie 1839 Etienne Cabet. Die Formel zeigt eine überraschende Ähnlichkeit zur hutterischen Devise, aber mit zwei markanten Unterschieden. Erstens: Statt Notdurft heißt es jetzt Bedürfnis. Das asketische Moment ist getilgt. Chruschtschow übrigens hat 1961 ein Programm des Aufbaus des Kommunismus in zwanzig Jahren verkündet, in dem es noch einmal hieß: »vollständige Befriedigung der wachsenden materiellen Bedürfnisse« – und: »Der Traum, hundert Jahre alt zu werden ohne zu altern wird Wirklichkeit«, also ab 1981. Das Existenzminimum ist einigermaßen definierbar, nicht aber die Bedürfnisse. Die sind plastisch und steigerbar. Wenn sie zum Verteilungsmaßstab werden sollen, entsteht eine Bedürfnisdefinitions- und -befriedigungs-Bürokratie.

Und zweitens: der Grundsatz soll nun für eine Großgesellschaft, also eine Volkswirtschaft praktiziert werden. Marx hat schlicht übersehen, dass auch dies gewaltige Bürokratisierung bewirken musste. Insofern ist es nicht richtig, dass diese ein Abfall von der reinen Lehre war. Sie ist die von Marx, wie es scheint, nicht bedachte unausweichliche Konsequenz seines Ansatzes.

 

Geschrieben: 1997