von Carlos Marroquin

Die Gesellschaftstheorie von Georges Bataille in den Beiträgen für die Zeitschriften »La critique sociale« (1931-1934 und »Acephale« (1936-1937)

Bereits zur Zeit seiner Mitarbeit für die Zeitschrift Documents (1929-1930) setzte sich Bataille für eine ›Wissenschaft des Konkreten‹ ein, die ihre Analyse der sozialen Tatbestände mit der direkten Interpretation von konkreten Phänomenen beginnen sollte. Documents war eine Zeitschrift, die sich als Ziel gesetzt hatte, ›hässliche Objekte‹ aus unterschiedlichen Kulturbereichen der Öffentlichkeit als mythologische Dokumente schlechthin vorzustellen. Im Grunde stellen Batailles erste Aufsätze zur Gesellschaftstheorie den Versuch dar, auf die modernen Gesellschaften und Kulturtraditionen Europas die Methoden der Ethnographie anzuwenden, die modernen Gesellschaften mit den Augen des Ethnologen zu betrachten und sie wie die ›primitiven Kulturen‹ zu untersuchen, um hinter der modernen Fassade die Mechanismen zu finden, die die sozialen Konflikte und Gegensätze in der aktuellen Welt regelmäßig bestimmen.

Die zeitgeschichtliche Situation in jener Periode (1933-1937) bildet einen Grund für die Orientierung der Studien Batailles zur Theorie des sozialen Ensembles, die auch eine Analyse der totalitären Systeme in der Politik enthält. Er publizerte in der von Boris Souvarine geleiteten Zeitschrift La critique sociale (November 1933 und März 1934) die zwei Teile seiner Schrift Die psychologische Struktur des Faschismus, in welcher Bataille zum ersten Mal den Zusammenhang zwischen Gesellschaftstheorie und Religionstheorie erläuterte. Die Studie beinhaltet vorwiegend eine ökonomische und eine politische Einschätzung der Moderne, erläutert nach psychoanalytischen und religionswissenschaftlichen Kriterien. Grundlegend ist in dieser Arbeit die von Bataille getroffene Unterscheidung zwischen einer homogenen und einer heterogenen Sphäre, die die moderne Gesellschaft als ihre Bestandteile konstituieren sollen. Die homogene Sphäre als das Gebiet der ökonomischen Produktion und der rationalen Leistung definiert, hat eine Nivellierung der Mitglieder dieser Gesellschaft als Produzenten geschaffen und den Wert der sozialen Handlungen nach dem herrschenden Nützlichkeitsprinzip festgelegt.

Durch die moderne Form der Produktion sind die Mitglieder der Gesellschaft zu homogenen Elementen geworden, deren erste gemeinsame Eigenschaft darin besteht, dass ihre Leistungen nach bestimmten Kriterien bemessen werden können. Ein wesentliches Merkmal der homogenen Sphäre besteht in ihrer Rationalität, in der wissenschaftlichen Erkennbarkeit ihrer ökonomischen, produktiven Wirklichkeit. Die Erkenntnis der ersten offenen Struktur der heterogenen Gesellschaft ist nach Bataille die Voraussetzung für das Begreifen der verborgenen Struktur der heterogenen Elemente. Da die ökonomische Homogenität die soziale Homogenität determiniert, wird sich jeder Widerspruch auf ökonomischer Ebene auch im sozialen Ensemble auswirken, die soziale Homogenität wird durch die heterogene Gewalt gefährdet. Entstehung und Funktion des Staates lassen sich durch die innere Anfechtbarkeit der homogenen Sphäre erklären.

Das Thema des Sakralen bildet eine spezifische Form der allgemeinen Klasse des Heterogenen. Diese Klasse erfasst mit der Kategorie des Sakralen auch die Gesamtheit der ›nichtrationalen Elemente‹ der sozialen Formation, d. h. positive und negative Elemente, die der Rationalität fremd geworden sind. Heterogene Elemente werden schließlich mit den Attributen der Gewalt, der Gefahr und der Maßlosigkeit beschrieben, Eigenschaften, die keinen leblosen Objekten zugeschrieben werden können. Die Beschäftigung mit der Kategorie des ›Heterogenen‹ bringt Bataille im zweiten Teil der Schrift zu einer Analyse des Politischen als der Zone in der die heterogenen Elemente als bewegende Faktoren auftreten und das soziale Ensemble maßgeblich bestimmen. Die ›geometrische Konzeption der Zukunft‹, die von der Aufklärung und dem Positivismus entworfen wurde, ist nach Bataille an der politischen Gegenwart seines Jahrhunderts gescheitert. Weder die ›Demokratien‹ noch die ›revolutionären Kräfte‹ sind im Wachsen begriffen, sondern der Staat in seiner ›totalitären‹ Ausprägung.

Charakteristisch für die ideologische Rechtfertigung des totalitären Staates sei die Berufung auf ›höhere Gefühle und Werte‹, die nicht aus ökonomischen und pragmatischen Interessen resultieren. In der ›metaphysischen‹ Legitimation der sozialen Autorität erblickt Bataille eine Parallele zwischen der ›königlichen‹ und der ›faschistischen‹ Macht. Die zusammengesetzte Nation der königlichen Macht besteht in der Einheit von militärischer und religiöser Macht. Der Faschismus seinerseits stellt die Radikalisierung und Verwirklichung dieses politischen Ideals unter modernen Bedingungen dar. Die metaphysische Autorität des Staates ist im ›souveränen Prinzip‹ des Volkes oder der Nation verankert. In diesem Kontext ist der Beitrag von Marcel Mauss in seiner Schrift La nation (1920) zu erwähnen. Für Mauss bildet die Gesellschaft kein Objekt, sondern ein aktives Subjekt, das sich durch Rituale und Feste manifestiert und dadurch seiner eigenen Identität bewusst wird. Der Begriff der Nation hat nach dem Jahr 1789 an Präzision und Klarheit gewonnen. Aus dem Konzept von Mauss geht hervor, dass die Nation sowohl eine geschichtliche Tatsache als auch einen sozialen und kulturellen Wert darstellt, der die Identität einer Gesellschaft bestimmt.

Aus der eigenen Dynamik als sozialer Tatsache tendiert die Nation gleichzeitig dazu, ein Ideal oder eine Ideologie zu konstruieren, die das Ensemble und seine Mitglieder repräsentiert. Mauss begreift die Nation als eine historische, d.h. im Werden begriffene Gesellschaft. Eine besondere Stelle nimmt in diesem Kontext die Charakterisierung der Religion als ein wesentlicher Faktor der nationalen Integration ein. Die Religionen besitzen von Anfang an einen nationalen Charakter.

Der theoretische Kern des fragmentarischen Textes von Mauss liegt für uns in der Hypothese vom ›religiösen Ursprung‹ der Ideologie als Nationalismus, als ein Faktor der sozialen Dynamik. Die Staatsbürger beteiligen sich nicht nur durch die soziale und politische Tätigkeit am Leben ihrer Nation, sondern auch durch die Partizipation an der Idee der Nation, die Mauss als eine ›führende Idee‹ bezeichnet.

Eben in diesem Kontext als Nationalismus und als Rassisimus entwickelt Bataille seine Theorie der charismatischen Persönlichkeit als ein Schauspieler, der eine Rolle spielt im Theater der Politik. Der Schauspieler spielt seine Rolle vor einem zahlreichen Publikum auf der Bühne am Hauptplatz der Stadt. Die sakrale Idee der ›Nation‹ oder des ›Volkes‹ bildet den ersten Wert, den der Schauspieler seinem Publikum vermitteln muss, um dann die Menschen im Geiste der Liebe zum Vaterland zum Handeln zu bewegen. Eine absolute Herrschaft über die sozialen Strukturen und über das Bewusstsein der einzelnen Bürger sei nur auf der Basis einer ›nationalistischen Mystik‹ möglich geworden.

Bereits in dieser Periode (1933-1937) vertritt Bataille die Auffassung, dass alle Gesellschaften auf der Basis von Leidenschaften und Gefühlen nach der Existenz von ›affektiven Strukturen‹ funktionieren. Eine künftige, theoretische Disziplin, die solche Strukturen untersuchen würde, wäre nach Bataille als eine ›Soziologie der Mythologie‹ zu bezeichnen. Batailles Beiträge für die Zeitschriften La critique sociale und Acéphale sind bereits im Zeichen der sozialpolitischen Krise entstanden. Einige Jahre später vertrat er unter Berufung auf Gaston Bouthoul die Auffassung, dass die entscheidenden Fortschritte in der Soziologie gerade mit kritischen Perioden in der Geschichte zusammenhängen, wenn die ›sozialen Katastrophen‹ zu neuen Forschungsobjekten der Theorie werden.

Literatur

GEORGES BATAILLE: La structure psychologique du fascisme, in: Oeuvres complêtes, Vol. I, Paris 1970, S. 340-350.
GEORGES BATAILLE: Le Problème de l'État, in: Oeuvres complêtes, Vol. I, S. 334 (Avec une Introduction de Michel Foucault).
MARCEL MAUSS: La Nation, in: Oeuvres 3, S. 575-584