Renate Solbach: Sonnenaufgang

 

(8) »Aurora« – und ein ›allerletzter‹ Romanow

Unser Studentenwohnheim in Leningrad lag an der Newa, wir konnte hinüber zu dem Kai sehen, an dem die »Aurora« festgemacht war. Wir besuchten natürlich diesen mythischen Dampfer, als er 1956 als Museumsschiff eingeweiht wurde. – Das Schiff ist eng mit der Geschichte Russlands als Imperium verbunden. Es lief im Mai 1900 in Sankt Petersburg vom Stapel und wurde Juli 1903 ›getauft‹. Seine Feuertaufe erhielt es im Russisch-Japanischen Krieg, in der Seeschlacht von Tstushima (Mai 1905). Es entkam als einziger Kreuzer der totalen Versenkung der Russisch-Kaiserlichen Flotte durch die Japaner. – 1916 machte er wieder in St. Petersburg fest, hier wurde durch seinen Signalschuss am Abend des 25. Oktober (gregor. Kal.) der Oktoberumsturz der Bolschewiki eingeleitet, der das 300-jährige Romanow-Imperium zerstörte. – Als Schulschiff der Baltischen Flotte wurde es in Leningrad im September 1941 durch einen deutschen Luftangriff versenkt.

Als zwanzig Jahre später wieder einmal ein Parteitag der KPdSU veranstaltet wurde, musste ich an diesen maritimen Auftakt zu einer Neuen Welt denken. Denn die Partei verkündete jetzt, nachdem sie vor vier Jahren (1956) die größte Niederlage ihrer Geschichte (eben die Verwerfungen der Stalinzeit 1929-1953) eingestand, zu aller Überraschung den Plan, jene Ankündigung vom Herbst 1917 erfüllen zu wollen: nun rasch die Revolution zu ihrem Ziel zu führen und – in zwanzig Jahren – die kommunistische Gesellschaft in der Union zu realisieren. Die Einführung des Kommunismus war also für das Jahr 1981 versprochen. Die meisten meiner Bekannten waren fassungslos. Chruschtschow-Skeptiker (die es ›links‹ wie ›rechts‹ in Fülle gab) meinten, jetzt sei er verrückt geworden. Für andere wiederum trat hier wieder eine Besonderheit der russischen Geschichte in Erscheinung, nämlich: die Russen ändern alles in zwanzig Jahren, in zweihundert Jahren dagegen nichts.

Wir erinnerten uns an die geschichtliche Dimension der durch die neue Gesellschaft zu lösenden zivilisatorischen Aufgaben. Der Sozialismus sei keine einfache Messer-und-Gabel-Frage, beschrieb schon Rosa Luxemburg das Problem, sondern nichts weniger als eine totale Kulturrevolution. Selbst Lenin machte sich wohl keine Vorstellungen darüber, was es heißt, den kategorischen Imperativ der Revolution, nämlich »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Mega, I. Abt., Bd.2, S.177), wirklich erfüllen zu müssen. Denn: Alle Verhältnisse meint eben genau alle – vom Eigentum, Geld & Kapital, Recht, Erziehung, Wissenschaft, Militär bis hin zur Kultur des privaten Miteinander–Umgehens.

So erwies es sich bald: die Imitationen, die man über die Jahre Kommunismus nannte, waren nicht den Schuss Pulver wert, der damals aufhorchen ließ … Hätte die Revolutionsgeschichte einen Sinn für Ironie, dann führte sie uns am Ende wieder an seinen Anfang (auf das Schiff, das keinem Imperium Glück brachte) zurück. – In Leningrad nämlich wurde in jenen Jahren des ›Aufbau des Kommunismus‹ ein allerletzter Romanow als Parteichef etabliert: Grigori W. Romanow (1923-2008). Dessen Hybris, schon selber im Kommunismus zu leben, übertraf selbst den Luxusalltag von Leonid I. Breschnew um Grade. Welche Verhöhnung für die Bevölkerung der Stadt Leningrad war es, als Romanow festlegte, dass die Verheiratung seiner Tochter auf dem Kreuzer Aurora stattzufinden habe! Offenbar ging er davon aus, dass es gerade hier so furchtbar leicht sei, sich während der Feier über die Reling zu entleeren… Romanow hatte kraft seiner Macht das Prunkservice der Zarin Katharina II. herbeischleppen lassen, welches dann die zügellose Feier nur zum Teil überlebte. Darüber und über andere unappetitliche Details unterrichtete der mutige Staatsanwalt Telman Chorenowitsch Gdljan die sowjetische Bevölkerung in den beiden großen Zeitungen der Hauptstadt. – Romanow hatte diese Sex- und Sauforgien für die Nomenklatura gegen die Entrichtung hoher Eintrittsgelder zu einer dauernden Einrichtung gemacht. Er hatte, mit den damaligen Worten des Staatsanwalts, die »Aurora« zum Bordell gemacht. Da sich die Orgien auf dem Deck des Schiffes abspielten, konnten die Leningrader Zeugen dieser unwürdigen Schauspiele werden, Zeugen der unvorstellbaren Entartung einer Revolution, die in ihrer Stadt mit so großen Hoffnungen begonnen hatte. – Dieser letzte Romanow wurde erst durch Gorbatschow 1985 von allen seinen Funktionen entbunden.

Die Leningrader haben inzwischen alles Menschenmögliche getan, um die Ehre des Kreuzers wiederherzustellen. Mein Blick geht von hier um ein Jahrhundert zurück. Karl Kautsky, Lenins Lieblingsfeind, der in allen Auseinandersetzungen freilich nie das objektive Maß verlor, schrieb 1902 den Aufsatz »Die Slawen und die Revolution«, den Lenin oft zitierte. In diesem Aufsatz sprach Kautsky zu ersten Mal davon, dass sich das revolutionäre Zentrum von Westen nach Russland verschoben habe. Er beschrieb auch die Hoffnungen, die durch die am historischen Horizont heraufziehenden russischen Revolutionen in die Welt gebracht würden. Sie würden die Anfänge der sozialen Umwälzung in der ganzen zivilisierten Welt befruchten und einen neuen, glücklichen Völkerfrühling mit Macht herbeiführen. – Der hundertste Jahrestag der Russischen Revolution 2017 sollte Anstöße für eine historische Bilanz über die von Kautsky gezeichneten Hoffnungen erwarten lassen.

An der Newa wäre ein guter Ort nachzudenken über das, was Marx einmal von uns Menschen gesagt hatte: wie wir in Einem Verfasser und Schausteller unseres eigenen Dramas sind.

 

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