4.Tag/3. Drehtag
Morgens finden wir uns zu dritt bei Paul ein. Er hat die Mappe mit den Skizzen herausgesucht. Er sagt, es seien nur Kritzeleien, nichts Ausgereiftes. Keine Auftragsarbeiten. Während Renate und Nicoletta im Nebenzimmer das Interview führen, baue ich im Zimmer über dem Flur das Licht auf. Allein breite ich die Mappe mit den Bildern und Zeichnungen aus. Ich schmunzle über Pauls Bescheidenheit. Es sind Bleistift-, Kreide- und Kugelschreiberzeichnungen, auch Aquarelle mit den verschiedensten Motiven. Ich stoße auf die Cavalleria andante und bin begeistert. Während drüben das Interview ein Ende findet, besinne ich mich erst. Paul schaut herein und lacht, man könne das Tao ruhig allein lassen, man störe es auch sonst nur. Er beginnt aus den Schattenbüchern vorzulesen, ich nehme weiter Blatt für Blatt auf, will keines auslassen, arbeite, verliere mich darin. Ich trinke nicht, esse nicht, gehe nicht aufs Klo. Nach ein paar Stunden bin ich durch. Ich gehe nach nebenan. Paul sagt, ich sei ganz weiß. Er geht nach unten, macht Schinkenbrote für uns, die er auf einem Korbtablett transportiert. Ich esse, glücklich, erschöpft. Ich bin froh hier zu sein. Der Sticker, den ich vor meiner Abreise auf meine Mappe geklebt habe, lacht mich an: Everything you can imagine is real.
Die Erfahrung der letzten Tage scheint den Satz zu bestätigen. Am Anfang stand die Auseinandersetzung über die Möglichkeiten filmischer Darstellung und die Angst vor ihr. Welchen Grad visueller Verbindlichkeit beansprucht der Film? Sind seine Motive wirklicher als gemalte? Der Zusammenstoß mit H., das neue Konzept resultierten aus diesen Fragen. Daraufhin bin ich eingetaucht in Pauls Welt, in seine Wirklichkeit, bevölkert von Falltüren, Geheimzimmern und nie vorher erblickten Wesen, die der Imagination entstammen und einen eigenen Zugang zur Welt bilden. Der Manierismus dieser Bilder lässt jedem seine Möglichkeit, sich in ihnen zurecht zu finden. Hier findet jeder sein eigenes Bild, wenn er nur hinschaut. So ist das mit der Wirklichkeit. Keine Kunstform kann sie verordnen. Was wir haben, sind viele Teilwirklichkeiten, was wir gewinnen können, sind perspektivische, sich gelegentlich überschneidende Einsichten. Die Frage, ob der Film oder das gemalte Bild oder die Photographie das bessere Darstellungsmedium ist, stellt sich nicht. Nur den Zugang regelt das Medium. Das Wichtigste ist das Hinschauen, überall, nicht nur dort, wo alle hinsehen, sich die Freiheit des eigenen Wegs zu nehmen. Pauls Bilder, durch meine Bilder gesehen, haben mir einen Weg gezeigt. Sind die Bilder erst in der Welt, hat man keinen Einfluss mehr darauf, wie sie wirken. Pauls Kind spielt mit meinem Kind, manchmal haut das eine dem anderen eins drüber, aber sie spielen mit dem gleichen Sand, der zwischen den Fingern zerrinnt und sich zu etwas Neuem formt.
Der Dreh ist zu Ende und alles beginnt neu.
Erschienen in:
Steffen Dietzsch / Renate Solbach (Hg.), Paul Mersmann - Diffusion der Moderne, Heidelberg 2008, S.154-158
Die irrealen Tiere. Gespräche mit Paul Mersmann (Kurzfilm, 2010)