Bekanntlich ist die Stadt ein Ort von Chancen und emanzipatorischer Entfaltung. Aber auch ein Ort von Konflikten, Ort von Bedrohung und Existenzangst, Ort des Scheiterns und Verlierens, der Vereinzelung und des Ausgeschlossenseins. Somit bewegt sich die Stadt auf einem Grat der Extreme. Eine Qualität, die über das Alltägliche hinausgeht. Scheitern, Mittelmaß und Erfolg begegnen sich täglich. Sie gehören zueinander und schaffen die Atmosphäre, die Urbanität der Stadt. Eine Urbanität, die häufig vergraben bleibt, denn die Welt wird nach wie vor von vielen Diktaturen geregelt. Es ist also die urbane Kraft des Subversiven, die immer wieder Potentiale entfaltet, die Stadt in ihrer Komplexität zu verstehen. Doch nur wenige haben die Möglichkeit, die Stadt zu dechiffrieren. Denn der Grad der Bildung und der Zugang zu Informationen bleiben beschränkt. Die Stadt wird nicht erklärt. Es geschehen Dinge, die allein in den Phantasien der Mächtigen ihren Sinn finden.

Einzig die Kunst besitzt die Kraft, diese Phantasien zu dekonstruieren. Sie bewegt sich im Bereich des Verbots. Sie unterliegt häufig Zensur, Missachtung und Vertreibung sind Ergebnisse dieses Unterfangens. Unter den repressiven Umständen zu bestehen, scheint ein besonderes Unterfangen zu sein. Angst wird eine alltägliche Realität, mit der die Protagonisten umzugehen lernen müssen. Die Schriftsteller befinden sich in einer besonderen Situation, sie müssen sprachlich mit den Ebenen jonglieren. Ihre Aussagen sind klar, assoziativ und setzen Schichten zusammen, die nur die Eingeweihten im Kontext verstehen.

Ebenso fungiert die Stadt als Bühne. Der öffentliche Bereich ist der Ort der Inszenierung. Frau, Mann und Kind begeben sich in die Öffentlichkeit und addieren zusätzliche Verhaltensmuster, um Signifikanzen zu schaffen. Öffentlichkeit ist das »Draußen«, und ohne es zu bemerken, verändert sich durch einen Ortswechsel das Verhalten. Bewusst oder unbewusst entstehen Charakteristika, die sich dem Verhalten zuordnen. Das »Draußen« bekommt eine Eigenschaft, die genauestens kodiert ist. Wir sind also das »Andere« und gehen auf die gesellschaftlich festgelegten Normen ein. Somit übernehmen wir Rollen, um auf der Bühne des öffentlichen Raumes einen eigenen Beitrag zu leisten.

Das »Innere«, also das Private, bleibt verschlossen und kann mit Hilfe anderer Informationen entschlüsselt werden. Im Allgemeinen bleibt diese Ebene verborgen. Der Privatbereich ist geschützt und kann nur rudimentär dekodiert werden.

Victor Hugo schreibt in seinem Buch »Der Glöckner von Notre-Dame«:
»Die Renaissance mit dieser strengen und doch so vielgestaltigen Einheit den phantastisch-blendenden Reichthum ihrer Formensysteme, den kühnen Schwung ihrer romanischen Rundbogenformen, griechischen Säulenordnungen und spätgotischen Bogenspannungen, ihre anmuthige und doch so ideale Sculptur, die eigenthümliche Neigung für Arabesken und Leibverzierungen, den heidnischen Baustil im Zeitalter eines Luther zu verbinden begann, da war Paris vielleicht noch prächtiger, wenn auch nicht so harmonisch für Auge und Sinn. Aber dieser prächtige Zeitpunkt ging bald vorüber: die Renaissance wurde vorherrschend; sie begnügte sich nicht mehr damit, Bauwerke aufzuführen, sie wollte solche auch niederwerfen; wahr ist, dass sie Platz brauchte. [...]
Seitdem hat die gewaltige Stadt angefangen, sich von Tag zu Tag zu verändern. Das Paris im gotischen Stile, unter welchem das romanische Paris verschwand, ist seinerseits vertilgt worden: aber wer kann sagen, was für ein Paris an seine Stelle getreten ist? «7 »Das jetzige Paris hat demnach keinen allgemeinen Stilcharakter. Es ist eine Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten und die schönsten dieser Muster sind verschwunden. Die Hauptstadt vergrößert sich nur in der Häuserzahl, und in was für Häusern! Wenn es mit Paris so fortgeht, wird es sich alle fünfzig Jahre erneuern.«8

Hier beschreibt Victor Hugo seine Vorstellungen von Paris und den städtebaulichen Veränderungen dieser Metropole. Hugo bezieht sich auf die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Romanhaft beschreibt er die Entwicklungen, die er beobachtet. Auf die Zukunft bezogen wird er geradezu hellsichtig, denn seine Beschreibungen bewahrheiten sich als Teil einer städtebaulichen Entwicklung, die ganz Europa ergreifen wird. Die poetische Ästhetik des Textes reizt zur Überprüfung des Geschriebenen. Man möchte die Stadt aus der Vogelperspektive anschauen, um Victor Hugos Paris zu erkennen. Diese Darstellung ist in Erzählungen eingebettet, die eine eigene Kraft haben und uns ein eigenes Bild der Stadt vermitteln. Doch wird nicht nur das Schöne, sondern auch jene Atmosphäre beschrieben, die problematisch erscheint.

Es gibt Stadtteile, die per se zu meiden sind. Sie sind aus unterschiedlichen Gründen stigmatisiert: Sie können zu den Armenquartieren der Stadt gehören, sie können auch von einer ethnischen Gruppe bewohnt sein, die nicht jeden Zugang positiv bewertet oder zu jener Gruppe zählen, deren Bevölkerung eher dem Nachtleben zugeneigt sind.

Positives und Negatives beschleichen die Stadt und bieten genug Material zu reflexiver Auseinandersetzung. Zugleich geraten die Städte aus dem bekannten Rahmen und werden zu Agglomerationen, die wir in der heutigen Dimension so nicht kennen. Megastädte sind nicht mehr eine rein übervölkerte Stadt, sondern eine Megastruktur, mit einer Größenordnung von über zehn Millionen Bewohnern. Sie sind nicht mehr überschaubar, wir kennen diese Städte kaum. Wir kennen nur Bereiche der Stadt. Unbekannt sind die Dimensionen des Hungers und der Angst. Aus einer gewissen Abstraktion erahnen wir die alltägliche Kraft des Hungers, wenn Tausende von Menschen in einer Stadt nach Essen suchen.

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