Wie Ortserkundungen zu Texten werden

Festrede im Rahmen des 10. Internationalen Literaturfestivals Berlin

Übersetzt von: Christian Hansen

Der erste große europäische Roman – selbstverständlich spreche ich von dem des Cervantes – ist kein städtischer Roman. Don Quijote und sein Schildknappe durchziehen auf ihren Fahrten das ländliche Spanien, und die einzige Stadt, in der sie gegen Ende des Zweiten Teils Einzug halten, wird uns nicht beschrieben. Die beiden Protagonisten besuchen lediglich die Druckerei, wo der Band gedruckt wird, der ihre Abenteuer erzählt. Noch ist die Typographie nicht das Produkt einer städtischen Topographie, wie es dreihundert Jahre später der Fall sein wird.

Im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts spielen die bedeutendsten Werke des Genres – Moll Flanders, Tristram Shandy, Jacques le Fataliste – in einem urbanen Ambiente, mit dessen Kartographierung sich die Autoren jedoch nicht aufhalten. Das setzt sich ein Jahrhundert später durch, und heute ist es fast ein Gemeinplatz, wenn man sagt, dass Paris von Balzac erschaffen wurde, London von Dickens und Madrid von Galdós. Aber diese Erschaffung – der Rekurs auf Viertel, Straßen, Plätze und Märkte, wo sich das Leben der Helden und Heldinnen entspinnt – erreicht noch nicht die Detailtreue und Genauigkeit eines authentischen topographischen Bezugs: Die Stadt bildet den dekorativen Rahmen der Romanhandlung und übernimmt noch keine direkte Hauptrolle. Es dauerte bis ins vergangene Jahrhundert, dass durch Ulysses von Joyce, Manhattan Transfer von Dos Passos, Berlin Alexanderplatz von Döblin, Landschaft in klarem Licht von Carlos Fuentes und Das schwarze Buch von Orhan Pamuk, um einige Beispiele zu nennen, die Städte Dublin, New York, Berlin, Mexiko D.F. und Istanbul zu den eigentlichen Protagonisten ihrer Romane aufrücken. In ihnen wird, wie Julián Ríos sagt, Topographie zu Typographie, und dank ihrer Autoren eröffnen sie uns die befruchtende Lektüre des Raums in Bewegung.


Über den Autor

Juan Goytisolo wurde 1931 als Kind einer wohlhabenden Familie in Barcelona geboren. Als er sieben war, kam seine Mutter bei einem Bombardement im spanischen Bürgerkrieg um - ein Verlust, der ihn tief geprägt hat.

Im Hause gab es eine umfangreiche Bibliothek, die ihm - neben regelmäßigen Leseabenden - von Kindesbeinen an Literatur näher brachte. Er besuchte eine Jesuitenschule und studierte danach Jura, machte jedoch kein Examen.

Bereits 1954 erschien sein Debütroman »Juegos de manos« (dt. »Die Falschspieler« 1956), ein Portrait der Großstadtjugend in Franco-Spanien.

 

Dieses und seine folgenden Bücher lassen sich mit Texten der britischen »Angry Young Men« der 1950er vergleichen. Auch Goytisolo übt in seinen Frühwerken in realistischer Manier Kritik an den Gesellschaftsbedingungen seines Landes und stellt Individuen in den Vordergrund, die sich gegen soziale Zwänge aufbäumen. Seine reportageähnlichen Romane über die armen Bewohner andalusiens waren eine flammende Anklage (»La chanca«). Durch sein Schaffen geriet der Autor immer mehr in Konflikt mit dem Franco-Regime, so daß er 1957 ins Exil nach Paris ging. Als Lektor bei Gallimard traf er dort mit bedeutenden Literaten von Camus bis Hemingway zusammen. Jean Genet wurde sein Mentor und beeinflusste auch sein späteres Coming out als Homosexueller. 1964 verließ er den Verlag und widmete sich jetzt ausschließlich der Literatur. Vom französischen Strukturalismus beeinflusst, brach Goytisolo mit dem Werk »Señas de identidad« (1966; dt. »Identitätszeichen«, 1978) endgültig mit dem Realismus – und wurde international berühmt. Das Buch handelt von der Entfremdung eines Exilanten, der ins Spanien des Franco-Regimes zurückkehrt. Dabei bedient es sich verschiedener Erzählperspektiven und Textarten, worin sich die innere Zerrissenheit des Rückkehrers und des spanischen Volkes in Gänze widerspiegelt. Der Roman bildet zusammen mit den Bänden »Reivindicación del Conde don Julián« (1970; »Rückforderung des Conde don Julián«, 1976) und »Juan sin Tierra« (1975; »Johann ohne Land«, 1981) eine autobiographisch beeinflusste Trilogie, die als Hauptwerk des Autors gilt. Alle drei Titel waren selbstverständlich im franquistischen Spanien verboten und wurden später zu Bestsellern. In vielen Büchern seines umfangreichen Werks thematisiert er die maurischen Wurzeln Spaniens und die dazugehörige Hybridkultur. Überhaupt ist die spanisch-arabische Geschichte und die islamische Kultur ein großes Thema für Goytisolo, der den gesamten Maghreb oft bereiste und seit vielen Jahren in Marrakesch (und Paris) lebt. Als engagierter Intellektueller meldete er sich neben seinen Romanen auch immer wieder als Essayist und Journalist zu Wort. So bereiste er Palästina, Sarajevo und Tschetschenien in den 90er Jahren sowie die islamsichen Länder der ehemaligen UdSSR und kommentierte die Geschehnisse in Artikeln und Essays.

 

Juan Goytisolo wurde mit diversen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter mit dem mexikanischen Octavio-Paz-Preis und dem Juan-Rulfo-Literaturpreis.


Der erste, der die urbane Welt aus der destabilisierenden Perspektive des Wandels erfasst hat, war Baudelaire. Seine Lektüre, im Licht von Walter Benjamins späteren Beobachtungen, war Keim oder Samenkorn meines eigenen erzählerischen Werdegangs. Aus der von Haussmann unter Napoleon III. betriebenen Umgestaltung von Paris, die der Autor der Blumen des Bösen mit einer uns bis heute faszinierenden Hellsicht und Pointiertheit beschreibt, erwächst dem Roman – verzeihen Sie den flagranten Anachronismus – die vierte einsteinsche Dimension: die der Zeit und ihrer Relativität. Die neue städtebauliche Ordnung der Bourgeoisie und ihr Streben nach einem erlesenen Raum riefen komplexe Hygiene- und Sanierungsmaßnahmen auf den Plan: die Schaffung freier Flächen und breiter Avenuen, die Zerstörung der gewachsenen Viertel, wie man sie in den Chroniken aus der Zeit vor der französischen Revolution geschildert findet. Wie ich vor rund zwanzig Jahren schrieb: „Die enorme Beschleunigung der Veränderungen in der Pariser Stadtlandschaft reduzierte die Dinge auf bloße Erinnerungsbilder: Alles wetteiferte darum, die Hinfälligkeit der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft zu betonen, in einem Universum des Geschwätzes und des Furors, das dem eines de Sade und dem des Autors der Celestina verwandt war.“

Wie ich im Folgenden kurz darlegen möchte, gibt es zwei Arten, die Stadtlandschaft in den Blick zu nehmen: unter dem Gesichtspunkt einer zeitlosen Gegenwart, als museale Stadt, und unter dem der destruktiv-konstruktiven Maschinerie der Zeit als permanente und anspornende Evolution. Paris und Berlin sollen mir als Leitfaden dienen, wobei ich en passant auch auf die Erfahrungen mit anderen Städten eingehen werde, in denen ich gelebt habe und die auf die eine oder andere Weise für meine Arbeit einflussreich waren.

Es gibt Städte, die ein für alle Mal abgeschlossen sind, wo jede Veränderung mit einer Minderung ihrer Schönheit und Fülle einhergeht. Von Venedig und einer Reihe anderer musealer Städte einmal abgesehen, hat das von Napoleon III. geschaffene, freilich bald von Émile Zola entzauberte Paris die bewundernde Aufmerksamkeit zahlreicher ausländischer Schriftsteller und Künstler auf sich gezogen, die, gebannt von der Herrlichkeit und Majestät des Gemäldes, der Welt der Champs-Élysées und des Place de l’Étoile gehuldigt oder die intellektuell brodelnden Viertel wie Montparnasse oder Saint Germain-des-Prés porträtiert haben. Schriftsteller wie Hemingway, Gertrud Stein und, später, Carpentier und Cortázar suchten in der Stadt eine Quelle der Inspiration und mehrten ihren Mythos. Ihnen und ihren bescheideneren Epigonen verdanken wir Romane, die es uns erlauben, jenem zwischen den beiden Weltkriegen existierenden privilegierten Raum nachzuspüren oder auch dem, der in den Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts erblühte, dazu das Who’s Who seiner Maler, Philosophen, Dichter und Romanciers.

Als ich im Alter von dreiundzwanzig Jahren zum ersten Mal das bedürftige und von der Franco-Diktatur geduckte Spanien verließ, war ich von Paris geblendet. Die anregende und kreative Welt des Rive Gauche, die Buchhandlungen, Theater und Kinos, in denen ich die intellektuelle Nahrung fand, die mir das stiefmütterliche Vaterland so strikt verwehrte, hat mein Leben entscheidend verändert. Obwohl ich erst zwei Jahre später die Freiheit wählte, bereitete ich mich geistig darauf vor, den Sprung aus einem homogenen, geschlossenen Umfeld, das mich großgezogen hat, in ein anderes zu wagen, wo die ideologischen, literarischen und künstlerischen Strömungen der ganzen Welt zusammentrafen. Paris war auch für mich ein Fest: eine Werkstatt der Erfahrungen und Ideen, in der ich nach Jahren bitterer Indoktrination, Entbehrung und Dürre fieberhaft Anschluss an die Gegenwart suchte.

Aber im Quartier Latin lernte ich auch jemanden kennen – wie und über wen, weiß ich nicht mehr –, der indirekt und sehr viel später meine Wahrnehmung der Stadt beeinflussen sollte: Ich spreche vom jungen Guy Debord, damals Spiritus rector der winzigen Situationistischen Internationale und später Autor des klugen und weitsichtigen Buchs Die Gesellschaft des Spektakels, dessen allgegenwärtige Realität uns tagtäglich bedrückt. Er und seine Gefährtin Michèle Bernstein vermittelten mir die Grundzüge einer Offenheit für andere quirlige Bereiche des Lebens – hochgradig verlockend für die neue Spezies von Großstadtwesen, die die simultane Wahrnehmung verschiedener Kulturen und deren inspirierendes Ferment geformt hat. Statt mich durch das strahlende und kultivierte Paris zu führen, das mich faszinierte, lotsten sie mich lieber in abgelegenere Viertel, nach Aubervilliers, in die Stalingrad-Gegend und zum Canal Saint-Martin, wo sie in Cafés mit spanischen Exilanten und maghrebinischen Einwanderern plauderten.

Als ich mich schließlich in Paris niederließ und durch meine lebenslange Gefährtin Monique Lange mit dem Verlag Gallimard und der um ihn gravitierenden Pleyade brillanter Schriftsteller in Kontakt kam, wich die offizielle Kulisse von Paris als Symbol und Leuchtturm der Zivilisation nach und nach einer anderen: der des Viertels Sentier, wo wir beide lebten, und der jener Gegenden, die sich von dort bis zur Gare du Nord, nach Barbès und zum Boulevard de Rochechouart erstrecken.


Auf meinen Spaziergängen eines „notorischen Stadtnomaden“ – wie ich mich seit vierzig Jahren selbst bezeichne – wurde mir die Hinfälligkeit der urbanen Textur und die in Baudelaires Modernitätswahrnehmung implizierte Veränderung bewusst; und die Tatsache, dass die Kultur der Zukunft weder national noch homogen sein würde – weder französisch noch englisch oder deutsch, nicht einmal europäisch –, sondern plural und gemischt, die Frucht von Austausch und Osmose, von fruchtbarem Zusammenleben mit Männern und Frauen aus allen Ecken der Welt. Ich fing an, sie von der Peripherie her zu betrachten und karnevalesk zu parodieren – ausgehend von den neuen Wirklichkeiten, die unserem ständig bewegten urbanen Raum entspringen; so wird der feierliche Vortrag von Aragons Gedicht Elsa, mon amour anlässlich ihrer Beerdigung im Mund eines afrikanischen Straßenkehrers zu L’sa Monammú – ein Marabu, dessen Fähigkeiten als Schwarzkünstler und Zauberer auf den Kärtchen aufgelistet sind, die an die Fahrgäste der Metro in der Station Barbès verteilt werden.

Die Passagen an Rue und Faubourg Saint-Denis sowie an der Place du Caire – heute ein Markt für die Dienstleistungen der pakistanischen Lastenträger – erteilten mir, wie ich in meinem Essay „Paris, Hauptstadt des 21. Jahrhunderts?“ schrieb, „Anschauungsunterricht in raum-zeitlichen Kollisionen – ausgelöst durch den Zuzug fleißiger Gemeinschaften, die sich von denen gänzlich unterschieden, für die sie entworfen worden waren; Ornamentik des Seconde Empire und türkische oder indische Küchengerüche“. Das alles schlug sich in dem Roman Landschaften nach der Schlacht nieder, als Antwort auf die Herausforderung, die mit dem Auftauchen vielsprachiger und kunterbunter urbaner Texturen einherging, in denen die Konjunktion synchroner und diachroner Elemente und die Polyphonie der Stimmen und Sprachen nicht bloß die Zutaten eines kühnen künstlerischen Entwurfs sein sollten, sondern Ergebnis einer lebendigen und bereichernden Erfahrung von Modernität. Der Kontakt mit diesen Vierteln und solchen in New York, Berlin, Tanger, Istanbul usw. eröffnete mir Bildungswege, die mir keine Universität hätte bieten können. Bachtin reichte Rabelais die Hand, Baudelaire den Schöpfern des urbanen Textes, der Topographie in Typographie verwandelte. Verzeihen Sie, wenn ich auf Eigenes zurückgreife für dieses Puzzle aus Teilen unterschiedlichster Formen und Farben; den jüdischen und armenischen Kaufleuten neben türkischen, maghrebinischen, subsaharischen, pakistanischen, indischen, vietnamesischen, karibischen Einwanderern:

Zu bestimmten Tageszeiten ist es ein wahres Babel der Sprachen. Die Häuserwände sind überzogen mit Schmierereien und Sprüchen auf Arabisch, die die Einheimischen nicht verstehen und die zu entziffern mir großen Vergnügen bereitet (...) die Einwanderer und ihre Familien bringen ihre Gebräuche mit, ihre Kleidung, ihre Frisuren, Musik, Schmuck, Essgewohnheiten. Die Viertel der kleinen Leute werden fröhlicher und bunter; ihre Bewohner haben die wunderbare Chance – ich möchte sagen, die unverdiente Ehre –, mit Männern, Frauen und Kindern aus ganz verschiedenen Ecken der Welt in Berührung zu kommen, sich gegenseitig respektieren zu lernen, mit ihnen dicht an dicht im Café zu sitzen, bei der Arbeit oder in der Schule. Auf einmal bröckelt die langweilige und erbärmliche ethnozentrische Sicht der Dinge, absolutgesetzte Werte relativieren sich, Vorurteile und Misstrauen verlieren an Gewicht. Das monumentale Pappmaché-Paris – der Triumphbogen und das Grab des Unbekannten Soldaten – bleibt für das Großbürgertum, die Funktionärselite, die Rentiers und Rentner sowie die Kriegerwitwen. In dem anderen, dem wirklich lebendigen Paris schießen Döner- und Couscous-Küchen wie Pilze aus dem Boden. Afrikanische Trommeln, berberische Geigen, indianische Instrumente ertönen in den Gängen der Metro. Die Stände mit Masken und Elfenbeinschmuck erobern mit jedem Tag ein Stück mehr vom Bürgersteig. Die Kartons, auf denen man Geld auf Spielkarten setzt, um Schaulustige zu übervorteilen, sind vom Djemaa el-Fna nach Barbès übergesprungen.

Überflüssig zu sagen, dass dieses einmalige Bild der «Ville Lumière» bei denen auf wenig Gegenliebe stößt, die sich an das einer Stadt klammern, die mehr und mehr dazu neigt, sich nach dem Verschwinden der meisten jener renommierten Intellektuellen, die sie zu einem Leuchtturm gemacht und ihre Bewunderer magisch angezogen haben, in ein Museum zu verwandeln. So berichtete mir jemand von der indignierten Reaktion des verantwortlichen Redakteurs eines bekannten Kulturmagazins: Für wen hält sich der, dass er so über Paris spricht. Die Wahrheit, die an den Rändern hervorbricht, beleidigt stets jene, die in Unkenntnis der Folgen von Kolonialismus, Sklaverei, Eroberungskriegen, Hunger, erzwungener Emigration aus Konfliktgebieten, die unseren Planeten verheeren, die Gegenwart in unbeweglicher Fülle erleben. Aber auch wenn es manche Leute beleidigt: Das war das andere Paris der Sechziger und Siebziger des vergangenen Jahrhunderts, das der ruhmreichen zwei Dekaden vom Ende des Algerienkriegs bis zum Auftreten von Aids und dem Erstarken eines radikalen Islamismus neuer Prägung, in deren Folge gewisse Formen der Freizügigkeit obsolet wurden, sich die relationale Wahrnehmung fremder Gemeinschaften veränderte und der Weg frei wurde für neue „Hygiene“-Maßnahmen zur „Aufhellung“ der Bevölkerung und die allmähliche Vertreibung fremdländischer Gruppen in die Vorstädte, verbunden mit Ghettobildung und identitärer Abschottung, wie sie heute unsere verzagten und fragilen Demokratien bedrohen. Überflüssig zu sagen, dass man genauso gut Türen auf freiem Feld errichten könnte. Die Natur verfährt nach dem Prinzip des Horror vacui, und keine europäische Verordnung wird die Bildung von maghrebinischen Marktplätzen, karibischen Dörfern, indischen, pakistanischen oder türkischen Ballungszentren innerhalb unserer Städte verhindern, so wenig wie die Mestizisierung und gegenseitige Kontamination als Ursprung neuer Formen des Zusammenlebens und der Kunst. Wie meine alte Freundin Scheherazade in ihrem Buch der Bücher sagte – und wie ich zu wiederholen nicht müde werde: „Die Welt ist das Haus derer, die keines haben.“


Die Metamorphosen Berlins im Laufe des 20. Jahrhunderts sind noch destabilisierender im Sinne Baudelaires. Durch Berlin Alexanderplatz habe ich die Stadt entdeckt und bin in sie eingetaucht. Alfred Döblins Genie hat ihre Topographie in Typographie verwandelt. Das Gewimmel der Fußgänger, das unermüdliche Treiben, der Überlebenskampf der Protagonisten, alles vollzieht sich in einem vom Romancier meisterlich gezeichneten urbanen Ambiente. Als leidenschaftlicher Leser kannte ich dieses Berlin, ohne je den Fuß hineingesetzt zu haben, bevor die Vernichtungswellen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der wilden Bombardements der Alliierten sowie die der Niederlage geschuldete, auf der Konferenz von Jalta besiegelte Zweiteilung der Stadt über die im Roman entfaltete Welt hereinbrachen und sie für ein halbes Jahrhundert in Ruinen, Trümmer und innerstädtische Natur verwandelte. Angesichts dieser ungewöhnlichen urbanen Landschaft und des düster-grauen Ostteils der Stadt wähnte sich vor drei Jahrzehnten der Leser von Döblin das Opfer eines bösen Traum, während er in Wirklichkeit ohne es zu wissen dem Prozess der Zerstörung und Neuerfindung einer Stadt beiwohnte, die sich nicht im Geringsten musealisierte, sondern mit atemberaubender Geschwindigkeit wiedererschuf. Wie im Paris Baudelaires reduzierte die der Zeit eigene Vergänglichkeit die für unverrückbar gehaltenen Dinge auf bloße Erinnerungsbilder.

Ein Aufenthalt im alten Westberlin im Frühjahr 1981, wo es mir ein Künstlerstipendium dankenswerterweise erlaubte, den Roman Landschaften nach der Schlacht in Ruhe abzuschließen, verdeutlichte mir eindrücklicher als jede Abhandlung die Funktionsweise der Maschine Zeit und ihres Anteils an dem destabilisierenden Bild dessen, was wir in der Nachfolge Baudelaires und Benjamins als künstlerische und literarische Moderne verstehen.

Ich hatte mir eine einfache Wohnung im damals an der Peripherie gelegenen Kreuzberg gesucht – unweit des Kanals, in den man 1919 die Leiche der großen Revolutionärin Rosa Luxemburg geworfen hat –, eine Wahl, die gleichermaßen meiner beklagenswerten Unkenntnis des Deutschen wie dem Wunsch nach Vertiefung meiner Türkischkenntnisse geschuldet war. Regelmäßig spazierte ich durch die Oranienstraße und zu einer Aussichtsplattform, die den Blick auf ein durch Stacheldraht, Gräben, Wachtürme und nächtliches Flutlicht gesichertes Niemandsland freigab, also auf das ganze von der Deutschen Demokratischen Republik sorgsam ersonnene Arsenal zur Abschreckung etwaiger Paradiesflüchtlinge.

In einem „Berliner Chronik“ betitelten Artikel, der in El País erschien und später in eins meiner Bücher aufgenommen wurde, beschreibe ich diese fragmentierte, fast schizophrene Realität, die die Berliner beider Seiten zu völligen Fremden machte:

Selbst ein kurzer Berlin-Aufenthalt reizt den Fremden vor allem zu einer fruchtbaren Betrachtung des Raums. Vom Krieg zerstört, durch die unregelmäßige, zwanghafte Grenzziehung einer absurden Mauer geteilt, hat die ehemalige Hauptstadt des Reichs und der bescheideneren und interessanteren Weimarer Republik ihr Gravitationszentrum verloren, und zumindest im Westsektor bietet sich ihm der Blick auf Brachflächen, Wälder, unkrautüberwucherte Flächen und leeres Ödland: ein extravagantes ökologisches Paradies. Aus dem Luftschiff der Hochbahn, die Kreuzberg durchquert, entdeckt er erstaunt die Ausbreitung von Wiesen und freien Feldern in vormals dicht besiedelten und pulsierenden Gebieten. Wie Pompeji oder Palmyra verwandelt uns der zentrale Stadtteil Tiergarten mit dem Potsdamer Platz hinterlistig in Forscher und Archäologen. Aber seine Ruinen sind keine zweitausend Jahre alt: so unwahrscheinlich es scheint, bringen sie es kaum auf ein halbes Jahrhundert.

Mit einem Stadtplan des alten Berlin in den Aufzug zu steigen, der zu dem neben einem Atombunker errichteten Aussichtspunkt fährt, und von dort das Panorama zu überblicken, das die graue Linie der Mauer und die beiden Hälften der verwüsteten Stadt umfasst, ist nicht nur eine direkte Einladung zur mentalen Verdopplung und Schizophrenie; es ist ein verworrenes, traumhaftes Schauspiel, das ohne Zuhilfenahme halluzinogener Drogen die wundersame historische Unwirklichkeit resümiert, in der wir leben.


In einem spannenden, kurz nach seiner Übersiedelung aus der DDR geschriebenen Text, Berliner Stadtbahn, schildert Uwe Johnson die gespenstische Fahrt in einem fast leeren S-Bahn-Zug von Friedrichstraße, wo sich die Grenzübergangsstellen der DDR von und nach Ost-Berlin befanden, durch ausgestorbene Bahnhöfe. Sie zu passieren und auf der anderen Seite wieder auf die Oberfläche zu kommen, war, als beträte man einen fremden Planeten; halbleere Straßen, stumme, gehetzt wirkende Fußgänger, die Prachtstraße Unter den Linden ohne Passanten und Autoverkehr, der verhasste, heute abgerissene Koloss des Palasts der Republik, den man meiner Meinung nach hätte erhalten müssen, als Mahnmal jener „Ästhetik der Hässlichkeit“, bezeichnend für einen Staat, der seinen angeblich demokratischen und sozialistischen Charakter für jeden sichtbar Lügen strafte. Günter Grass’ außerordentlicher Roman Ein weites Feld, den ich in meinem Essayband Contra las sagradas formas ausführlich analysiert habe, zeichnet ein meisterliches Bild vom Sterben dieses Regimes sowie das einer Bevölkerung, die in Jahrzehnten der Angst, Tristesse und Mittelmäßigkeit resignierte und nachher einem Raubtierkapitalismus und dem „Jeder-gegen-jeden“ im globalen Dorf zum Opfer fiel.

Lehrreich wäre eine kontrastierende Lesung von Döblin und Grass. Hier das fiebrige, chaotische und kreative Berlin der zwanziger Jahre um den Alexanderplatz, dort die hässliche Beton- und Ziegelsteinwüste, die man von dem riesigen, von der DDR als Sinnbild ihrer illusorischen Dauerhaftigkeit errichteten Fernsehturm aus erblickt. Selten habe ich so deutlich wie in Berlin den Schwindel gespürt, den der verändernde, zerstörende und neuschaffende Lauf der Zeit auslöst, der in seinem Gang über alles hinweggeht und uns alle hinter sich lässt. Hier vollzieht sich die urbane Schichtenbildung nicht peu à peu wie in Paris; hier ist sie mit Gewalt und kalkulierter Brutalität zustandegekommen. Auf der einen Seite der Mauer das Kreuzberg der Punks, Hippies und türkischen Einwanderer, der Parolen und Graffitis zum Ruhme des Leuchtenden Pfads und des revolutionären Kampfes der peruanischen Massen; auf der anderen das resignierte Schweigen einer aller Anreize beraubten Bevölkerung ohne jede lebendige Perspektive.

In Kreuzberg wie bei meinen Aufenthalten in Paris konnte ich feststellen, dass wir das Privileg genießen, zu reisen, ohne uns vom Fleck zu bewegen. Mussten wir uns früher einschiffen, den Zug oder Autobus nehmen und zum Flughafen fahren, so kommt heute das gesuchte, ferne Land zu uns und klopft an unsere Tür. Wir können dort, wo wir unsere Tage in Arbeit und Muße verbringen, vom Maghreb nach Pakistan, von China nach Senegal, von Ecuador nach Indien gelangen.

Welch unerhörte Lektion für mich und meine Landsleute, die wir bis vor dreißig Jahren in einem dichten Verschlag saßen, abgeschnitten von jeder Interkulturalität! Um europäisch zu werden, mussten Barcelona und Madrid dem Beispiel von Berlin und Paris folgen und sich afrikanisieren, arabisieren, asiatisieren, lateinamerikanisieren; mussten sie sich der inspirierenden Pluralität der Sprachen, Sitten, Riten, Kosmogonien öffnen. Neue literarische und künstlerische Formen sollten in diesen für Vielfalt offenen Räumen keimen, eine Vielfalt, wie sie heute auch Raval und Lavapiés verkörpern. Wenn die vergangene koloniale Expansion Englands und Frankreichs der Ursprung des aktuellen „Treibhauses“ literarischer Werke in den Sprachen von Dickens und Balzac ist, so gibt es gleichfalls ausgezeichnete deutsch-türkische Romanciers wie meine Freundin Emine Sevgi Özdamar, aus Asien stammende Autoren, die sich auf Holländisch ausdrücken, und Marokkaner, die es auf Katalanisch tun. Dieser Schmelztiegel der verschiedenen Sprachen und menschlichen Erfahrungen speist den im Fluss, in permanenter Bewegung befindlichen Raum, den wir cives, Metropole, Medina oder Stadt nennen.

Wer nach ein paar Jahren Abwesenheit nach Berlin zurückkommt, steht staunend vor der neuen, wundersamen Verwandlung der alten Ostberliner Mitte in die dynamischste und jüngste Stadt des alten Europa. Verglichen mit diesem Laboratorium der Initiativen und Ideen muten die anderen Hauptstädte wie Museumsstädte an, die die von oben, durch einen unkontrollierten angeblichen Fortschritt bewirkten Veränderungen nicht verbessern, sondern verschandeln. Die kreative, heterogene und der Dynamik der Zeit gegenüber aufgeschlossene Stadt Berlin wartet auf den Romancier, der aus der destabilisierenden Perspektive der Veränderung ihre Topographie in Typographie verwandelt und der Literatur gegenüber der Geschichte und ihrem Elend zum Sieg verhilft.


Anmerkungen des Übersetzers

  1. Stimmt nicht ganz; man zeigt ihnen den fiktiven Zweiten Teil einer schon zu Cervantes’ Zeiten in Umlauf befindlichen Fälschung des Quijote.
  2. In El País, 26. 12. 1980, später in Contracorrientes, Barcelona, Montesinos, 1985, S. 178
  3. Wörtlich JG: Der heute halb zerstörte Palast der Republik, den man erhalten sollte...
  4. Nicht übersetzt. Wider die sakrosankten Formen.