»Wenn die Sekunden der fremden Erfahrung verstrichen sind, muß die Maske energisch wieder abgezogen werden. Dahinter erscheint ein lachendes Gesicht, und lachen muß, wer immer den Vorgang sieht. Es ist das Lachen einer Freiheit, die sich selber wieder etwas besser kennt.«
Peter von Matt: [Essay über Elias Canetti]

 

Bei meinen früheren Aufenthalten in Kairo habe ich die Altstadt vorzugsweise spätabends und nachts durchstreift. Dies geschah vor allem deshalb, weil mein Freund und Führer, verschwiegener Kenner aller Gassen und Winkel, tagsüber beschäftigt war, aber ein leidenschaftlicher Nachtgänger ist. Mir war es recht, ich bin’s auch, und wie ich später erkennen sollte, hatte es sein Gutes: Es vermied einen möglichen Schock, denn die Nacht mildert die Züge des Verfalls, des Ruinösen, schützt Armut und Elend vor dem zudringlichen Blick.

»… in its dilapidation the city helps the illusion. Its ruined houses, which no one thinks of repairing …«

Die Nacht gibt nur direkt beleuchtete Szenerien frei. Und daran fehlt es ja nicht: Rund um den Kopf herum müsste man Augen haben, um alle Bewegungen, Drolerien und Absonderlichkeiten des Kairoer Straßenlebens gleichzeitig zu erfassen. Kaum wendet man sich den Männern – perfekte Mimen ihres Genres – in einem Straßencafé oder einem Laden zu, hebt im Rücken ein raffiniertes Streitgespräch zwischen einem Autofahrer und einem Eselskarrenbesitzer an über das Für und Wider des Befahrens von Einbahnstraßen in Gegenrichtung oder über die verschiedenen Techniken des Ausweichens. Noch ganz gefangen von den Sophistereien und der Kunst der Argumentation, je nach Gesprächslage bald das Absurde streifend, dann wieder in gewaltigen Bilderbergen kumulierend, wird man durch eine jäh aufgackernde Frauenstimme in der Höhe abgelenkt, die im Dunkeln, irgendwo darüber noch, in einem Weibergelächter ihr Echo findet. Einige Schritte weiter, wir sind aus dem Lichtkegel der Szene herausgetreten, führt die Gasse uns ins Dunkle und in die Stille. An einer Ecke, halb sitzend, halb liegend, eingehüllt in eine löcherige Decke, hebt ein Bettler, ein Versehrter, irgendein elender, armer Teufel, sein Gesicht zu mir auf. Er lächelt mich still an. Ich habe ihm nichts gegeben, bin fast schon vorbei, bevor ich ihn bemerke; und dieser Mensch lächelt dem Fremden aus seiner Einsamkeit im Dreck der Gosse zu.


Über den Autor

Gennaro Ghirardelli, geboren 1944 in Zürich. Studium in Ethnologie, Philosophie, Religions- und Kulturwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Mehrere lange Forschungs- und Arbeitsaufenthalte in arabischen Ländern, insbesondere in Syrien und Ägypten. Ehemals Lektor bei Athenäum Verlag, Frankfurt a. M., Herausgeber der „Edition Pandora“ im Campus Verlag, Lehrtätigkeiten an den Kunsthochschulen Berlin und Hamburg. Arbeitet als Übersetzer und freier Publizist.

 

Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen unter vielen anderen:

  • Albert Hourani, Der Islam im europäischen Denken, Frankfurt/M, S. Fischer Verlag 1994.
  • James N. Davidson, Kurtisanen und Meeresfrüchte. Die verzehrenden Leidenschaften im klassischen Athen, Berlin, Siedler Verlag 1999.
  • Natalie Zemon Davis, Leo Africanus, Berlin, Verlag Klaus Wagenbach, 2008.
  • Michael Axworthy, Iran. Weltreich des Geistes. Von Zoroaster bis heute, Berlin, Verlag Klaus Wagenbach 2011.
  • Rémi Brague, Die Weisheit der Welt, München, Verlag C. H. Beck 2006.
  • Charif Majdalani, Das Haus in den Orangengärten, Roman, München, Knaus Verlag 2008.

Es ist eine kühle Februarnacht, der Boden nass und schlammig von sporadisch niedergehendem leichten Regen. Überhaupt, Eure Straßen! Man bewegt sich hüpfend in eigenartigen Bocksprüngen vorwärts, erklimmt viel zu hoch angesetzte Bordsteine, rutscht taumelnd in eine Wasserpfütze und zieht trotz aller Vorsicht beim Setzen der Schritte allenthalben einen Schuh voll Wasser heraus. Wird dies von den Epikureern hinter ihren Wasserpfeifen in den Kaffeehäusern bemerkt, kommt dort unverhohlene, aber gutmütige Schadenfreude und Heiterkeit auf, unterlegt von einer Spur Mitleid mit dem ungeschickten Fremden. Der vom Wind in die Stadt getragene Wüstensand vermischt sich mit der Nässe zu einer braunen, glitschigen Soße, Mehlschwitze nicht unähnlich. Auch in Trockenzeiten sind die Straßen oft genug überschwemmt – notorische Lecks im Kairoer Leitungsnetz. Autofahrer umfahren die Wasserlachen, indem sie plötzliche Ausweichmanöver vollführen, denn im See könnte sich die Quelle, ein großes, ungeschütztes Loch befinden, das Wagen und Fahrer mit Haut und Haar verschlingt. Außerdem sind alle Autofahrer Kairos davon überzeugt, dass nichts ihren Autos so sehr schade wie Wasser von unten. Sie vermeiden daher auch auf der Autobahn zum Flughafen, wo sich seit Jahren nach einem Regen an stets derselben Stelle eine Lache bildet, unter stets denselben wiederkehrenden Kommentaren über den Regen und seine Folgen in rasender Slalomfahrt jegliche Berührung mit dem Wasser.


Wir nähern uns jetzt, auf unserem nächtlichen Gang an den Hauswänden entlang schlingernd, Bab al-Futuh, einem dieser mittelalterlichen Stadttore, die den Besucher in die umgebende Nekropole entlassen. Knoblauchgeruch kommt auf, immer stärker, frischer Knoblauch, nicht der Gestank von angebranntem in der Pfanne. Haufenweise liegt er da, an Mauern geschichtet oder auf abgestellten Last- und Lieferwagen gestapelt, aus dem Nildelta und dem Fayum zum Verkauf angeliefert.
   Wir verirren uns in einem Ruinenfeld halb und ganz eingestürzter Häuser. Eine Sackgasse. Aus der Finsternis tauchen Gestalten auf, die uns freundlich, in aller Selbstverständlichkeit den Weg zurück in eine bewohnte Gasse weisen. Einblicke aus dem Dunkel enger Gassen in Hauseingänge und schwach beleuchtete Wohnungen. Alles ist überbelegt, man hat sich im Verfall niedergelassen, wie es eben geht. Später habe ich ein Haus in einem wohlhabenden Viertel kennengelernt, wo sich der Türhüter mit seiner Familie mangels ausreichenden Wohnraums im Eingang vor dem Treppenhaus eingerichtet hat. Wohnungsbesitzer und deren Besucher mussten gewissermaßen das Wohn- und Schlafzimmer der Familie durchqueren. Auch diese hatte oft Besuch; man saß vor dem unvermeidlichen Fernseher, grüßte freundlich die Ein- und Ausgehenden, lud auch mit der üblichen Geste ein, doch Platz zu nehmen. Zwar versuchten die Hausbewohner den Türhüter davon zu überzeugen, dass dies denn doch zu weit ginge; er hatte dafür aber kein Ohr, daher blieb alles beim alten. Ein Türhüter hat viel Macht und kann sehr unangenehm werden.


Alles verfällt, rückt dem Tod näher. Natürlich, wie denn nicht! Es ist das Leben. Ich denke an Europa, an unsere schönen Altstädte, und wie sie jetzt überall sorgsam erneuert, gehegt und gepflegt werden. Réhabilitation, careful upgrading; in Frankreich, Italien, Deutschland – von dem, was dort nach dem Kriegs- und Nachkriegskahlschlag noch übriggeblieben ist. Bologna, Nürnberg, Prag, sie sehen aus wie neu, diese herausgeputzten Altstädte, die Spuren der Zeit sind getilgt, alles glänzt und ist intakt, versehen mit den modernsten Einrichtungen. Neues Herz, neue Leber, neue Niere; das Leben läuft rückwärts, dem Tod davon. Man muß schon in die Neubauviertel der Vorstädte gehen, um die Spuren des Gebrauchs und der Abnutzung wahrzunehmen, an die Orte, die nicht für erhaltenswert erachtet werden. Es ist ja wahr, doch was für eine Anmaßung gegenüber der Geschichte des gestaltenden und gestalteten Lebens! Auch hierzulande werden da und dort Versuche unternommen, das eine oder andere zu retten, es der Ewigkeit einzuverleiben.

»The modern Turks can build nothing themselves but tawdry palaces … but if they can not create they can spoil; and it is hard to know which deserves the greater damnation, their neglect or their reparation of the monuments of Cairo.«

Der Wüstensand, die Luftverschmutzung, allgemeine Nachlässigkeit und eine andere Auffassung von Bewahrenswertem – von Europäern kurz ›Ignoranz‹ genannt – gehen darüber hinweg.


Der Freund führt mich an ein schweres Holztor im alten Gemäuer. Wir treten ein und befinden uns im engen Hof einer Färberei. In der Mitte ein Ziehbrunnen. Wo Licht hinfällt, leuchten tiefe Farben auf: safrangelb, prangendes Rot; ausgelegte, gefärbte Stoffe oder Töpfe voller Farbe. Überall an den uralten Mauern sind Farbspuren zu sehen, Mischungen von Jahrzehnten. Es geht gegen Mitternacht, dennoch sind Leute in der Färberei; es wird noch gearbeitet, langsam und wenig nur noch, der Tag klingt mit Nebenbeschäftigungen aus. So ist das bei Euch: Kaum freut man sich darüber, dass weniger als bei uns gearbeitet wird, schon stößt man auf Menschen, die um Mitternacht noch arbeiten und am nächsten Morgen wieder zur Stelle sind.
   Die Färber nötigen uns zum Tee. Das Radiogedudel aus einem Kaffeehaus in der Gasse draußen dringt noch gedämpft in den Hof; einige langgezogene Rufe, immer wieder, bis die erwartete Antwort kommt. Wir sitzen im Halbdunkel auf unbequemen, wackligen Stühlen, die Beine auf den Brunnenrand gelegt und sprechen über dies und das: über die Stoffe, die Farben, das Kaufen und Verkaufen, über früher und heute, über hier und über die Welt – Europa. Ein kleiner, böser Alter kauert am Boden, macht scharfe Witze, nicht nur über uns, auch über seine Landsleute, den Präsidenten, den Nachbarn...


Uns treibt es zurück in das Stadtzentrum, in die Stadt des 20. Jahrhunderts, durch die Passagen und Großstadtschluchten des Molochs, durch den Staub und die Auspuffgase. Wir triumphieren insgeheim, wie leicht wir uns in diesem Dickicht bewegen. Wir sind Kosmopoliten, nirgends so sehr wie in Eurer provinziellen Metropole.
   Ein altes Café in einer Passage der Jahrhundertwende, der gekachelte Boden wie üblich mit Sägemehl belegt, um die Reinigung zu erleichtern. Es ist ausgemalt mit arkadischen Motiven, Schäferszenen, Sonnenuntergängen, Schichten glänzender Ölfarbe, immer wieder übermalt. Der ›Hausmaler‹ ist gerade mit den letzten Zügen einer Generalerneuerung beschäftigt. Er hält die Palette mit der linken Hand am halb ausgestreckten Arm vor sich, mit der rechten angewinkelt den Pinsel führend. Ab und zu tritt er zurück, wirft den Shawl über die Schulter, zieht den Oberkörper schräg nach hinten und kneift die Augen zusammen, korrigiert mit dem kleinen Finger die Nuance einer Farbgebung. Wir kommen ins Gespräch; er ist sehr zurückhaltend. Auf die Frage, ob er tagsüber einem anderen Beruf nachgehe, schüttelt er melancholisch den Kopf. Er sei Maler, lebe nur der Kunst, auch wenn es manchmal schwer sei, die Familie zu ernähren. Er könne nicht anders. In der Nacht arbeite er, weil es dann ruhiger im Café sei. Der Kellner brüllt die Bestellungen hinter den Tresen, von dort erfolgt ebenso lautstark die bestätigende Antwort, am Nebentisch hebt ein wildes gestikulierendes Gespräch und lautes Gelächter an, vor der Passage knattern hupend mit löchrigen Auspuffrohren Taxis, Busse und Privatwagen vorbei. Der Maler vertieft sich wieder in seine ruhige Nachtarbeit – Landschaften mit Bergen und Seen, Sonnenuntergänge, Schäferszenen; das Leben, immer und immer wieder!

Wir gehen nach Hause, es ist zwei Uhr früh, lassen alles so wie es ist.


Der Freund und ich haben die Nachtgänge durch die Altstadt fortgesetzt. Sie wurden uns für einige Zeit fast zur Gewohnheit, boten Gelegenheit zu Gesprächen, wobei die Umgebung und das Geschehen um uns herum mal Anregung, mal Ablenkung waren. Mitunter gerieten wir, ohne es zu merken, an merkwürdige Orte, die wir noch nicht kannten. Sie weckten unsere Neugierde, das Gespräch wurde für eine Weile unterbrochen und wir wandten uns der Erkundung des Neuen zu. Dann wieder kamen wir vor der Fassade eines alten Stadtpalastes oder einer Moschee zum Stehen, die im gedämpften Licht schwach erleuchteter Gassen und Plätzchen wie Kulissen in einem ägyptischen Film wirkten. Klassifizierte historische Monumente, auch sie vom graubraunen Wüstensand überpudert, als wollten sie nichts besonderes unter den anderen verfallenden Häusern sein. Die mittelalterlichen ayyubidischen und fatimidischen Bauten geben sich bei aller Ausgewogenheit ihrer Proportionen, bei aller Perfektion und Schönheit im Detail eher bescheiden. Nichts von dem statuarischen Repräsentationszwang pharaonischer Tempel und Denkmäler, auch nichts von dem verspielten, amüsanten Kitsch der späten Khedivenpaläste.

»… everywhere rise the unsightly and ill-built palaces in which viceroyal extravagance and ostentation have found an outlet. Not one of all these huge buildings is other than an eyesore …«


Wir sind zu viert unterwegs, zwei Frauen, zwei Männer, machen spätabends einen Gang in den südlichen Teil der Altstadt: Bab al-Khalq, Darb al-Ahmar, der Sultan Hassan und der Rifa'i-Moschee unterhalb der Zitadelle zu. Festzelte sind auf den Plätzen und in den Sackgassen zu den Hauseingängen aufgebaut; Sänger und Instrumentenspieler bereiten ihre Auftritte vor. Wir werden von einem Mann angehalten, bei der Hand genommen und resolut zu einem der Festplätze gezogen. Man verjagt Kinder von einigen Stühlen, bringt Tee. Wir erfahren, dass der Maulid, der Geburtstag, des Rifa’i gefeiert wird, von Ahmad bin ’Ali Abu l ’Abbas ar-Rifa’i, der im 12. Jahrhundert in der Gegend von Basra im Südirak die nach ihm benannte Rifa’iya Bruderschaft gegründet hat.
   Die Musik fängt an zu spielen und ein alter Scheich setzt mit seinem Gesang ein. Es ist ein ohrenbetäubender Lärm, alles wird von Lautsprechern verstärkt in die Umgebung geschmettert. Der Alte, ein großer, dicker Mann mit Brille in einer Galabiya, singt fromme Lieder, blinzelt vergnügt in die Runde und bewegt sich gar nicht fromm. Er wackelt mit dem Bauch, läßt ab und zu die Hüften kreisen, so wie eine routinierte Sängerin ihre männlichen Zuhörer animiert.

»… professional singers chant odes of an erotic character …«

Das Publikum geht mit, klatscht in die Hände, reagiert mit Zwischenrufen und Antworten auf den gesungenen Text. Der Mann nebenan brüllt mir die Frage ins Ohr, ob wir aus Israel kämen. Auf mein erstauntes Verneinen und die zurückgebrüllte Antwort hin, dass unsere Gruppe aus zwei Franzosen, einer Deutschen und einem Schweizer bestehe, lacht er: »Es hätte sein können; weil ihr Arabisch versteht. Es gibt viele Besucher aus Israel hier.« Wenige Tage zuvor ist eine israelische Touristengruppe während einer Nachtfahrt im Nildelta von auch später nie identifizierten Extremisten (so werden sie offiziell bezeichnet) überfallen worden. Es gab Tote und Verletzte. Der Vorfall hat großes Aufsehen, weithin Entsetzen erregt – Kopfschütteln und Schnalzen mit der Zunge. Die Bilder der Verletzten und vor allem der ägyptischen Hilfeleistungen wurden tagelang bei jeder Nachrichtensendung im Fernsehen gezeigt. Einige Politiker beeilten sich, Besuche bei den in die Krankenhäuser eingelieferten Israelis abzustatten – nicht ohne Pressebegleitung, versteht sich. Es ist ein höfliches und bei allem Witz den Konventionen lammfromm ergebenes, ein moralisches Volk!


Unser Mentor verabschiedet sich von uns, drückt jedem die Hände und verschwindet. Er hat woanders zu tun. Eine Verabredung, ein Geschäft? Nachts um elf, mitten in den Festivitäten? Oder war er ein Geheimer? Sie sind allerorten und manchmal sehr freundlich. Als ich eines Morgens im Nildelta unterwegs war, gab es auf der Autobahn ein großes Chaos. Polizei und Militär waren dabei, den Verkehr umzuleiten, weil der Präsident erwartet wurde, um ein Stück neuer Autobahn einzuweihen, das allerdings schon seit Wochen befahren wurde. Es soll auch vorkommen, dass eine neue Straße, obwohl fertiggestellt, wochenlang gesperrt bleibt, weil sie noch nicht eingeweiht wurde. Alles weiträumig abgesperrt, nur am Ort der Handlung selbst waren verdächtig viele Bauern unmittelbar an der Autobahn am Pflügen, trieben Eseltreiber ihre Tiere vor sich her, hockten Gruppen von Bauern und Bäuerinnen am Straßenrand. Der Fahrer wies auf das bunte Treiben und rief vergnügt: »Alles Geheimpolizei!« Eine Frau, die zum Festkomitee für die Einweihung gehörte und die uns die Polizei einige Kilometer davor autoritativ, ohne Widerspruch zu dulden, in den Wagen gesetzt hatte, weil sie sonst zu spät zum Festakt gekommen wäre, wollte sich schier ausschütten vor Lachen.
   Etwas verloren sitzen wir im Festzelt, schlürfen den kredenzten Tee und lassen das Getöse über uns ergehen. Kein Mensch scheint mehr Notiz von uns zu nehmen. Nur bei längeren Blickkontakten wird ein gefälliges Lächeln herübergeschickt, ein geneigtes Kopfnicken, das tiefer Selbstzufriedenheit entströmt. Ich habe schon verstanden, dass, wenn nur alles seinen Gang geht, Ihr mit Euch sehr zufrieden und vollkommen im Reinen seid.

»… there was not a sign of ill-humour or fanaticism in spite of the presence of many Europeans. A more good-natured crowd was never seen.«

Wir verlassen den Platz und ziehen weiter. Um die Grabmoschee des Rifa’i, im Zentrum des Geschehens, wird die Menschenmenge dichter, die Stimmung ausgelassener – Jahrmarktleben.


»Nothing more picturesque and fairylike can be imagined than these scenes in the streets and bazars of Cairo on the great night of Hasaneyn.«

Im Dunkel der ansteigenden Straße zur Zitadelle hin verändert sich die Szenerie: Liebespaare werden von der Nacht verschluckt, Prostituierte treten ins Licht. Am Straßenrand sind große Zelte aufgebaut, desgleichen in den obskuren Gassen des Darb al-Ahmar. Zelte der Bruderschaften aus den Dörfern, der Name der Gruppe und der Herkunft auf schwarze Fahnen, der Farbe ihres Heiligen, aufgemalt. Wenn jemand ein Zelt verlässt oder betritt, erhaschen wir einen kurzen Einblick in das Innere: manchmal wird noch getanzt, ermüdete Ekstase von Männern und Frauen; oft dringt im Aufblitzen der kurz zurückgeschlagenen Zeltbahnen ein unerwartetes Bild nach außen: Männern lagern mit Frauen auf den Kissen und rauchen, das Zeltinnere dampft im Haschischrauch, die letzten Bewegungen der Tanzenden lassen den Einfluss des Genossenen vermuten. Eine aufgeladene orgiastische Stimmung im Abklingen, die Selbstverletzungen bei den ekstatischen Vorführungen der »Heulenden Derwische« sind vorbei, man genießt noch in vollen Zügen das ausklingende Fest, die verbleibende Zeit, in der die gewohnte Ordnung außer Kraft gesetzt ist.

»… the whole scene is certainly unreal and fairylike. We can imagine ourselves in the land of the Ginn or in the City of Brass, but not in Cairo or in the nineteenth century.«


Das Orgiastische dieser volkstümlich religiösen Feste, welche die Ordnung bedrohen, indem sie Gesetze bewusst verletzen, muss jeder Orthodoxie ein Dorn im Auge sein, so wie noch jede aus den Fugen geratene mittelalterliche Kirmes bei dem gebildeten Klerus und den Theologen Abscheu erregte. Und mit welchem süditalienischen Heiligenfest kann sich der Vatikan wirklich abfinden? Aber die neuen Eiferer, Fundamentalisten und Integristen erregen sich noch weit mehr über diesen Abgrund an Sünde und Schande, über den primitiven Aberglauben, der mit Musik, Tanz und fragwürdigen Ritualen den Islam der zerknirschten Mienen und gesenkten Köpfe unterhöhlt. Abschaffen wollen sie das alles, verbieten, da unislamisch, wahrscheinlich von fremden, heidnischen Einflüssen gespeist. Und wahrhaftig, manche der ›heiligen‹ Taten, die dem Manne Rifa’i heute zugeschrieben und von seinen Anhängern nachvollzogen werden, sollen erst nach dem Einfall der Mongolen in die Region bekannt geworden sein. Dazu gehören das Durchbohren des Bauchfleisches, von Schultern und Wangen mit Spießen, das Durchschreiten glühender Kohle, früher das Reiten im ekstatischen Zustand auf Raubtieren und dergleichen mehr. Dagegen soll der wirkliche Begründer des Rifa’iya-Ordens, eben jener Ahmad bin ’Ali Abu l-’Abbas ar-Rifa’i, ein eher bescheidener Mann gewesen sein und unter den heiligmäßigen Koryphäen der Zeit noch nicht einmal eine besondere Stellung eingenommen haben. Die weite Verbreitung des Ordens erfolgte offenbar im Schlepptau anderer populärer mystischer Bewegungen und möglicherweise unter dem Eindruck, den die »Heulenden Derwische« auf die wundergläubige Bevölkerung gemacht hatten. Ob aber mongolische Schamanen das Ihre zu den Exaltationen beigetragen haben, oder ob den Mongolen das alles bloß in die Schuhe geschoben wird, da sie in der Geschichte des arabischen und persischen Orients überhaupt für alles Wilde, Ungehobelte und Unzivilisierte zuständig sind, ist weniger bedeutsam als die Tatsache, dass sich der ungestüme Volksglaube mit seinen dunkeln und anrüchigen Festen gegen alle theologischen Beschneidungsversuche als immun erwies.


Wir gehen durch den stiller gewordenen Darb al-Ahmar zurück, werden manchmal von Drogenhändlern angesprochen, die Haschisch verkaufen wollen. Auf unsere Ablehnung hin wünschen sie uns freundlich eine gute Nacht und wir ziehen unseres Weges.

»Nothing more greatly surprises the European traveller than the polite and gentlemanlike manners of Egyptians of all classes.«

Kürzlich gab es eine Protestdemonstration der Drogenhändler gegen die Polizeieinsätze in den einschlägigen Vierteln und gegen die damit verbundene anhaltende Störung des Geschäfts. Die Zeitungen berichteten ohne eine Spur von Ironie darüber.


Vor einigen Tagen sagte der Freund auf der Straße: »Ah, ça sent de Ramadan – man riecht den Ramadan!« Und tatsächlich werden überall Vorbereitungen für den Fastenmonat getroffen. Es wird für ein Fest gerüstet – und nichts anderes ist die Fastenzeit hier in der Großstadt –, das einen Monat lang dauern wird. An vielen Orten, auch in der modernen Stadt, sieht man Schafe: Die Opferlämmer werden über die Stadtautobahnen und die »Fly-overs« getrieben, man hält sie in Verschlägen auf den Mittelstreifen der Stadtstraßen und auf Gehsteigen zum Verkauf. Wer irgend dazu in der Lage ist, kauft sich ein Tier, das zum Fest, 'id al-fitr', auch 'id as-saghîr' genannt, das »Kleine Fest« am Ende des Fastenmonats, geschlachtet wird. Ramadan fiel in diesem Jahr in den März und April, es war noch nicht sehr heiß, daher das Getriebe noch ausufernder, wurde alles noch intensiver betrieben als sonst in der heißeren Jahreszeit.
   Die ersten Tage des Ramadan: Viele fasten, selbst Christen machen manchmal mit; es ist eine Art Volkssport. Am späteren Nachmittag leert sich die Innenstadt. Die Menschen sind müde, hungrig und nervös, die Autofahrer hupen noch öfter als sonst. Es geschehen auch merklich mehr Unfälle, der Verkehr wird aggressiver, jeder versucht so schnell wie möglich nach Hause an die Töpfe zu kommen.


Wir machen einen Spaziergang in die Altstadt; es geht gegen sechs Uhr, dem Sonnenuntergang zu. Rolläden fallen scheppernd, die letzten Ladeninhaber und Händler machen sich auf den Heimweg. Es wird so still, wie sonst nie in dieser Stadt. Wir schwenken auf einen kleinen Platz ein und setzen uns auf ein Mäuerchen. Kein Mensch ist mehr auf der Straße, aber wir spüren, dass wir noch von mehreren Seiten, von Balkonen und hinter zugezogenen Läden beobachtet werden. Keine Bewegung – als hätte selbst der Wind aufgehört, kein Hauch mehr. Alles ist nach innen gewendet, nur noch auf den Magen und auf die Vorbereitung zur Nahrungsaufnahme konzentriert. Dann die Böllerschüsse, das Zeichen zum Fastenbrechen – und wieder Stille. Jetzt aber geht rund herum in den Häusern über uns ein Geklapper los, Löffel, die auf Porzellan schlagen, Teller, die zusammengestellt werden, nach und nach setzen menschliche Stimmen ein, und nach einer geraumen Weile kommen die ersten Bewohner wieder aus den Häusern auf die Straße, immer mehr, bis das Leben im Freien seinen gewohnten Rhythmus erreicht. Später, gegen Abend, steigert sich das Getümmel in der Altstadt und überbordet vollends in die Nacht hinein. Alles drängt in die Gassen, will hinaus, sehen, gehen, reden, kaufen, feiern, Kaffee trinken, spielen, rauchen, lachen, rufen. Volk quillt überall hinein und hinaus, alle Kaffeehäuser sind überfüllt, in manchen sitzen Frauen und Männer durcheinander, alle Läden sind wieder geöffnet, die großen Zufahrtstraßen zu Azhar und Sayyidna Hussein hoffnungslos mit Autos verstopft, schlimmer als zu allen täglichen Stoßzeiten. Es ist Ramadan, in den ersten Tagen mehr denn je, danach kommt es zu einer gewissen Gewöhnung und Beruhigung, bis gegen Ende der Fastenzeit die Vorbereitungen zum Fest wieder mitreißen.

 

Der Text »Nachtgänge durch Kairo« wurde zu Beginn der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts während eines längeren Arbeitsaufenthaltes in Ägypten geschrieben und erstmalig im Mai 2000 in der Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kultur »BÜCHNER« veröffentlicht. Vieles mag sich seitdem verändert haben, manches ist vielleicht geblieben. Die englischen Zitate stammen von Stanley Lane-Poole, Cairo. Sketches of its history, monuments, and social life. 2. Aufl., London 1895.