Ulrich Schödlbauer

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Den Ausdruck boat people hatte Fac ten Chek, wie vieles andere, noch nie vernommen. Vermutlich ergeht es dem einen oder anderen heutigen Leser ähnlich, wenngleich aus Gründen, die unvergleichlich anders genannt werden müssten, wären sie nicht Gründe wie alle anderen auch. Jahrelang hatten Leute der ehemaligen Saigoner Society, von den neuen Machthabern das Schlimmste befürchtend, viel Geld hingeblättert, um sich in Fischerbooten, defekt oder nicht, nächtens aufs Meer hinausschaffen zu lassen – in der irrwitzigen Hoffnung, per Zufall von einem Hochseeschiff aufgelesen und in ein entferntes Land, am besten die USA, verfrachtet zu werden. Unempfindlich gegen das Wesen der Befreiung, hatten sie nicht abwarten wollen, dass man sie von ihrem bürgerlich-konterrevolutionären Wesen befreite, indem man sie in die Welt der Lager und Todeszellen zur Weiterbildung überstellte.

Die Regierung hatte das Treiben beobachtet, aber sich nicht dazu geäußert. Warum? Das ist leicht erklärt. Die Gehälter der Getreuen lagen unter dem Existenzminimum (wo immer das liegen mochte). Korruption galt als kapitalistisches Laster, das mit dem Sieg des Sozialismus aufgehört hatte zu existieren. Woher die Scheu? Hinter vorgehaltener Hand kursierte in den oberen Rängen der Partei die Überzeugung, Flucht sei ein Geschäft wie jedes andere und deswegen von Staats wegen zu organisieren. Der gemeine Flüchtling liebt das Leben und das Leben liebt ihn. Das entsprach einer Goldader, deren Ausbeutung sich leicht in den Rang einer vaterländischen Pflicht erheben ließ.

Die Ernennung zum Flüchtlingskoordinator verdankte Fac ten Chek dem Zufall, der Rivalität zweier Minister, der Feindschaft einer Konterrevolutionärin und einem Mithäftling, der inzwischen Karriere gemacht hatte.

So ein Satz schreibt sich gelassen hin und die geneigte Leserschaft vergisst dabei leicht, wieviel Recherche-Mühsal in ihm steckt. Trotzdem – rein als Aussage betrachtet, ist er blühender Unsinn. Nichts von alledem hätte gereicht, um das Unwahrscheinliche eintreten zu lassen, hätte nicht auch der Spruch existiert, den die Dorfhexe anlässlich Fac ten Cheks Geburt gemurmelt hatte, woraufhin die Miliz sie, nebst anderem menschlichem Gerümpel, auf einen Lastwagen schob und mit ihr davonfuhr.

Von diesem – ungesicherten – Spruch war während seiner Jugend häufig die Rede: hinter vorgehaltener Hand, versteht sich. Auf Zauberei stand die Todesstrafe. Keiner kannte den Wortlaut. Vielen galt er als geheim und sie bemühten sich nichts zu hören, wenn die Rede auf ihn kam. Doch ein paar Versionen zirkulierten in den örtlichen Parteikreisen, wurden zum Gegenstand lebhafter Vier-Augen-Gespräche und fanden den Weg in die Weiten des Apparats, der nie vergisst.

Am Tag der Ernennung fischte Fac ten Chek die Mao-Bibel aus dem Bücherregal, drückte das verlebte Büchlein flüchtig gegen Stirn und Mund und verbrannte es. Die Asche schob er zusammen und rührte sie in ein wenig Zement ein, mit dem er den Kaminboden bestrich. Eine sinnlose Geste: Er wusste, sie waren schon dagewesen und hatten jede Kleinigkeit registriert. Der Krieg zwischen China und Vietnam lag gerade einmal acht Jahre zurück – eine entsetzlich lange, eine entsetzlich kurze Zeit für einen, der wusste, dass es ab jetzt auf ihn ankam. Die Mao-Bibel hatten sie stehengelassen, um zum gegebenen Zeitpunkt etwas gegen ihn in der Hand zu haben. Jetzt hatten sie etwas gegen ihn in der Hand.

Fac ten Chek kannte das Büchlein auswendig. Es fiel ihm schwer, einmal Gelerntes zu vergessen. Andere gründeten darauf ihren Broterwerb. Die Menschen, zwischen denen er sich jetzt bewegte, vergaßen stets und vergaßen nie.

 

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