Ulrich Schödlbauer

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Niemand hatte das Virus gesehen.

Beim Gang durch den Gemeindewald hatte der Ortsmediziner, der gern einmal eine Sprechstunde ausfallen ließ, wenn der Mittagsschlaf es gebot, seltsame Klopfzeichen aus dem Innern zweier als hohl geltender Bäume vernommen. Daraus hatte er geschlossen, dass endlich eingetreten war, wovon die ältesten Bücher seiner Zunft handelten: die Ankunft des Großen Unsichtbaren. Binnen kurzem, so lehrten die weit in die Zukunft blickenden Weisen, würde es die bedeutenden Glieder der Gemeinde gemeinsam mit den weniger bedeutenden dahinraffen. Kein Tröpfchen, keine Tinktur, keine Lutsch-, Kau- oder Schmelztablette, kein Dragee, mit einem Glas Wasser einzunehmen und mit ein wenig Alkohol nachzuspülen, kein dicker Schal, keine Honigmilch, keine verordnete Bettruhe, kein fiebersenkendes Mittel und keine Spritze würde etwas dagegen ausrichten können.

Schon den Studenten der Medizin, das Examen im Blick, hatte gelegentlich die Furcht überkommen, irgendwann werde er mit seinem Latein am Ende sein. Der Augenblick war gekommen. Hier stand er – und handelte auf der Stelle.

Die Rüstungen waren schnell bestellt.

Bloß die Apothekerin, die das wundertätige Öl beisteuern sollte, konnte zur Verwunderung der Gemeinde nicht liefern. Sie setzte Testreihen mit Wanzen an, experimentierte am offenen Rehkitz, schloss undurchsichtige Verträge mit auswärtigen Lieferanten, salbte ihre Hände und trug Handschuhe, die weit über die Knöchel gingen.

Irgendwann hatte sie Schwierigkeiten mit der rechten Gesichtshälfte und murmelte unter Mühen, es gebe Fortschritte.

Darüber vergingen Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Ein weiteres Frühjahr verstrich und die Gemeinde, die sich nicht mehr vor die Tür wagte, hatte die Keller leergeputzt, womit sie zwar als rattenfrei gelten konnten, aber nichts mehr zum Beißen lieferten.

Als die Gemeinde beschloss, sie habe nun lange genug gewartet und werde – ab sofort! – jeden rösten, der es wagte, einem Mitmenschen mit vollem Mund und leeren Händen unter die Augen zu treten, kreuzte die Apothekerin auf, wuseliger denn je, wedelte mit den Händen, die lustig aus den Bandagen hervorstachen, und forderte die Versammelten auf, die mitgebrachte Tinktur auf ihre Rüstungen aufzutragen: »Es ist gelungen!«

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