Ulrich Schödlbauer

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»Ein feuchtes Jahr«, sagte der Fremde – er war ein paar Schritte weiter gegangen und atmete schwerer –, »so ein feuchtes Jahr kann ein Leben völlig verändern. Bisher war es, bis auf die üblichen Einbrüche, stabil, und auf einmal verschwimmt es. Das der anderen geht völlig unbeeinträchtigt weiter, sie nehmen den Stein nicht wahr, der dich zum Stolpern brachte, und alles, was sie dir ins Gesicht sagen, ist: Da, alles eben! Du musst weitergehen. Das eben ist die Schwierigkeit. Du siehst ja ein, dass sie recht haben, du gehst, unter Aufbietung aller Kräfte, ein paar Schritte weiter, doch da ist schon der Punkt, an dem du sagen musst: Ohne mich! Und sie gehen, erst zögernd, weiter: ohne dich. Das Leben geht immer weiter. Du hast, unwillentlich, wie dir scheint, eine Abzweigung genommen, nun gut, auch da geht es weiter.«

Der Gedanke schien ihn zu beschäftigen. Wir gehen ja alle auf ebener Erde dahin, wenn wir nicht gerade Treppen steigen oder in den Alpen kraxeln. Dass so einer scheinbar wie alle dahingeht, aber bei genauerem Hinsehen hinunter, ohne dass sich dort ein sinnvolles Ziel anböte, das ist in der allgemeinen Vorstellung fürs erste nicht enthalten. Als habe er meinen Einfall erraten, drehte er sich um und blickte mir offen ins Gesicht.

»Wir alle sind voller merkwürdiger Abzweigungen, der eine gerät früher, der andere später hinein. Ich will mich hier nicht herausstreichen, nur weil ich leide. Das Merkwürdige an so einem Leiden besteht darin, dass man, einmal verwickelt, es einerseits für unerträglich, andererseits für bewohnbar hält. Diese unwillkürlich sich einstellende Idee der Bewohnbarkeit ist vielleicht die böseste Prüfung, die es bereithält. Wenn so ein Köpfchen keinen Ausweg sieht, dann stellt es sich nicht das Ende vor, sondern richtet sich darin ein. Es geschieht ja alles, so oder so, im Kopf, und der Kopf braucht keinen Ausweg. Er steckt selbst voller Wege.«

»Haben Sie einmal daran gedacht…«

Er brach in ein Gelächter aus, als habe er nur darauf gewartet.

»Gedacht? Ich habe an alles gedacht. Was denken Sie? Das Denken ist schließlich das einzige, was einem in einer Lage wie der meinigen übrigbleibt. Es sind die einzigen Schritte, die Ihnen erlaubt sind. Nein, ich habe aus meinem Kopf keinen Tigerkäfig gemacht, in dem die Gedanken voller Unruhe auf den Moment warten, an dem sie freigelassen werden. Ich halte nichts von freigelassenen Gedanken, bereit, den Erstbesten anzufallen, der ihren Weg kreuzt. Ich habe mich bemüht, meine Lage systematisch zu durchdenken. Es hat mich nicht befreit, aber es hat mir gezeigt  –«

Ein Hustenanfall unterbrach unsere Konversation. Geduldig wartete ich das Ende ab. So ein Husten ließ ihn, inmitten der allgegenwärtigen Seuchenpanik, verdächtig erscheinen. War er ein Träger der geheimnisvollen Krankheit, welche seit nunmehr fast zwei Jahren die Gesellschaft lähmte? Schon sah ich zwei entgegenkommende Frauen ihre Gesichtsmasken festzurren und sich eng an die Mauer drücken. Wie lebte es sich in solchen Zeiten mit einem nervösen Husten, der durch die Situation nur stimuliert werden konnte? Rechnete er damit, kontrolliert, vielleicht sogar verhaftet zu werden?

»Sehen Sie die Bank da drüben? Da sitzen die Arbeiter in der Sonne und trinken ihr Bier. Gestern war die Polizei da, wer weiß, wer sie gerufen hat. Man muss nur einen Augenblick stehenbleiben und sie bei ihrem Treiben beobachten, schon gerät man in ihr Visier. Nein, ich habe nichts gegen Ordnungshüter. In meiner Geschichte spielen sie keine Rolle. Dabei ist es eine Geschichte der Ordnung, fast könnte ich sagen, der Ordnungen, denn mit einer geben sich unsere Quälgeister selten zufrieden.«

Fast hätte er mich gepackt.

»Sehen Sie die Frau? Die Frau, die uns das alles…«, er suchte nach Wörtern, »eingebrockt hat? Sie hält sich abseits, sie hat den Tyrannen installiert, der uns täglich mit neuen Ankündigungen, die nichts weiter sind als verhüllte Drohungen, traktiert. Nichts darf das Bild der hohen Frau trüben. Sie ist nicht schön, aber sie ist mächtig, Schmeichler sagen, sie sei die mächtigste Frau der Welt. Macht schlägt Schönheit. Dabei ist sie eine Getriebene, aber das darf man nicht sagen. Man darf so manches nicht mehr sagen, seit sie das Heft in der Hand hält. Vor allem darf man nicht sagen, dass man es nicht sagen darf. Sonst gehört man gleich zu denen, die nichts zu sagen haben. Das sind so Feinheiten des Geschlechts… Wir Männer sind doch wahre Seismographen des Weiblichen. Sie ist die Dritte Frau. Kennen Sie diesen Ausdruck? Nein? Das macht nichts. Das macht gar nichts.«

Wir setzten uns auf eine Bank. Sie war mit Graffiti besprüht, die Sitzfläche beschmiert, die Rückenlehne fehlte und der vorderste Balken war abgebrochen, aber: Man konnte sitzen. Ein beizender Geruch wehte vom Papierkorb herüber.

»Weibliche Herrschaft ist immateriell. Ich darf das sagen, denn ich habe sie kennengelernt. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich den größten Teil meiner Kindheit in einem Garten zugebracht habe? Ich merke, Sie finden das beneidenswert. Seien Sie vorsichtig. Die Gärten der Kindheit sind sehr unterschiedlich. Wissen Sie, wie es ist, wenn Sie, aus welchen Gründen auch immer, in einen Garten eingesperrt werden? Wenn das Türchen zur Welt zur Kerkertür wird, nur mit Sondererlaubnis und strengen Zeitvorgaben zu verlassen? Aber die Schule, werden Sie sagen. Ja, die Schule. Sie dürfen keine Freunde haben, jedes Trödeln auf dem Schulweg wird streng geahndet. Warum, werden Sie fragen, was ist das für eine merkwürdige Kindheit? Das habe ich mich auch lange gefragt und keine Antwort bekommen. Heute sage ich Ihnen: Die ganz normale Hölle auf Erden wird von Menschen errichtet, die Verantwortung scheuen und diese Scheu als Verantwortung verkaufen. Sie endet auch nicht mit der Kindheit. Eigentlich endet sie nie. Sie tritt nur nicht immer so stark zutage. In den letzten Monaten konnte sich glücklich schätzen, wer einen Garten besaß. Für all die sinnlos in Quarantäne Verbannten gilt das noch heute. Es ist auch die Frage, wie man einen solchen Garten betrachtet.«

Es arbeitete in ihm. Ich ging einen Schritt zur Seite, beobachtete eine Frau im mittleren Alter, die vergeblich zwei Hunde zu bändigen versuchte, während eine andere lachend auf sie einsprach. Ein offenbar Geistesgestörter hatte einen Lautsprecher an sein Fahrrad montiert und beschallte die Umgebung mit Impfparolen.

Ich trat näher. »Eine Frage hätte ich doch: Was war Ihre Aufgabe in jenem Garten?«

»Gut, dass Sie sie stellen. Mir oblag es, ihn frei von Unkraut zu halten. Zupfen, Sie verstehen? Und nicht so oberflächlich, sondern wurzeltief, Sie verstehen. Ach, nicht mehr, werden Sie jetzt sagen. Das ist doch … easy. Sehen Sie, Sie sind ein Kind, ein junger Mensch, die Schule fällt Ihnen leicht, Ihr Geist benötigt Nahrung, Sie sind eine Leseratte und werden gnadenlos von den Büchern abgeschnitten, die Sie sich heimlich besorgt haben: Hinaus mit dir! Gleichgültig, bei welchem Wetter. Dann sieht die Sache schon etwas anders aus. Und wenn Sie dafür zuständig sind, dass kein reif gewordener Apfel und keine Birne auf dem Boden aufschlägt und dort aufplatzt oder auch nur einen braunen Fleck bekommt, wenn Sie persönlich mit Ihrem Röntgenblick entscheiden müssen, welche Früchte wann von den Bäumen geholt werden müssen – und es gibt viele Bäume in diesem Garten –, und Sie sind ein Kind und haben Kindergedanken im Kopf, dann sieht die Sache wieder ein wenig anders aus. Oh, es gibt viel zu tun in so einem Garten, und wenn da jemand ist, der Sie in Angst und Schrecken angesichts der Vorstellung hält, etwas vergessen oder versäumt zu haben, von dem Sie im Ernstfall noch gar nicht wussten, dass es in Ihren Aufgabenbereich fällt, dann leben Sie eben in Angst und Schrecken, wie denn sonst.«

»Das ist ja bizarr. Was waren das denn für Menschen?«

»Oh, das interessiert Sie? Es waren drei, eine Dreifaltigkeit, wenn Sie so wollen. Eine Frau, ein Mann, eine alte Närrin. Der Mann war natürlich mein Vater. Er arbeitete auswärts und kam nur ein-, zweimal in der Woche nach Hause. Sie müssen sich das so vorstellen – aber was haben Sie denn?«

»Nichts. Mich hat gerade etwas gestochen. Sie wollen also andeuten…?«

»Andeuten? Was um Himmels willen sollte ich andeuten wollen? Was meinen Sie damit?«

»Nun, Sie wollen damit andeuten…«

»Moment mal. Sie unterstellen mir, ich wollte andeuten, dass ich den Ursprung meiner Beschwerden noch immer in meiner Kindheit suche und, erbärmlicher noch, in der Konstruktion der bösen Frau. Darum geht es doch, nicht wahr? Das ist die Mücke, die Sie gerade gestochen hat.«

»Ich weiß nicht. Eigentlich berührt mich Ihre Kindheit nicht. Sie mag erbärmlich gewesen sein, aber Sie sind ein gestandener, nicht mehr ganz junger Mann und sollten die Welt nach anderen Gesichtspunkten beurteilen. Was geht Sie, was geht mich das Unkraut im Garten Ihrer Kindheit an?«

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