Ich war von 1990 bis 2020 genau 30 Jahre lang Hochschullehrer, zunächst sieben Jahre bei der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung und dann 23 Jahre hier an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen. Zuvor hatte ich in sieben Assistentenjahren das Glück, zwei mich nachhaltig prägenden Lehrern zu begegnen: meinem verehrten Doktorvater Karl Dietrich Bracher in Bonn und später dem viel zu früh verstorbenen Klaus von Schubert in Heidelberg. Beide Professoren haben nicht nur Bücher geschrieben, sondern sie standen mit ihrer ganzen Person für ihre Gedanken ein.
In 1984 beschreibt Orwell, dass die Verteilung von Macht in allen Gesellschaften stets drei Schichten erzeugt: Die Herrscherschicht (weniger als ein Hundertstel), die Trägerschicht (etwa 10-15 Prozent) und die Schicht der Beherrschten (85-90 Prozent). Mit Gesellschaften sind dabei alle Staaten seit der Urbanisierung der Menschheit mit Einführung der Schrift gemeint, also die historische Existenz [24]. Selbstverständlich wird diese Abschätzung in seinem literarischen Werk nicht empirisch belegt, doch dürfte Orwell quantitativ und qualitativ in etwa richtig liegen. Diese Aufteilung scheint in der Natur des Menschen begründet zu sein; Macht ist einer der wichtigsten Treiber der Vergesellschaftung [31, S. 4]. Die interessante Frage ist daher nicht, wie man die Machtverteilung fundamental verändern kann, sondern wie die Macht ausgeübt wird: Welches Eigentum, welche Autonomie, welche Rechte und welche Partizipationsmöglichkeiten die beiden unteren Schichten in einer Gesellschaft erhalten.
Monika Schmitz-Emans: Enzyklopädische Phantasien. Wissenvermittelnde Darstellungsformen in der Literatur – Fallstudien und Poetiken. Hildesheim, Zürich, New York (Olms) 2019, 753 S. (Literatur, Wissen, Poetik, Bd. 8)
Die ausgewiesene Komparatistin Monika Schmitz-Emans legt einen, dem Thema angemessenen, schwergewichtigen und voluminösen Band vor. Der Titel lässt vor dem geistigen Auge des Lesers bereits ganze Bücherwände aufsteigen. Dazu passt das beziehungsreiche Bild auf dem vorderen Einbanddeckel: Zunächst meint man zwei gegenüberstehende Seiten einer Handschrift zu sehen, bei der zur Hervorhebung einzelne wichtige Worte in blauer oder roter Farbe markiert wurden. Bei näherer Betrachtung aber erkennt man, dass es sich um einen modernen Druck handelt: Der Text in der Gestaltung von Ines von Ketelhodt entstammt dem Band Zweite Enzyklopädie von Tlön aus dem 50bändigen Buchkunstprojekt von Ines von Ketelhodt und Peter Malutzki, das zwischen 1997-2006 entstand und inspiriert ist durch die Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius des Dichters Jorge Luis Borges. Die vermeintlichen Rubrizierungen bestehen aus kleinen blauen Quadraten, Kreisen, Kreuzen oder Rechtecken, durch die der Text nicht ausgezeichnet, sondern ersetzt wird, sodass er nur noch in Fragmenten zu erkennen ist. (Allerdings hätte der Verlag sich zu einer größeren Abbildung entschließen sollen!) Besser kann das Umschlagbild für ein Werk über ›Enzyklopädische Phantasien‹ kaum gewählt werden, denn hier scheint bereits ein Grundelement der Darstellung auf: das Spiel mit den Erwartungen an die Gattung ›Enzyklopädie‹.