Ob Covid-19 heute oder die Pest in früheren Jahrhunderten, manche gesellschaftlichen Verhaltensweisen in Zeiten von Seuchen ähneln sich offenbar. Bei vergangenen Epidemien gehörte vor allem die Isolation zum Maßnahmenkatalog gegen eine weitergehende Ansteckung. In der Neuzeit wurden insbesondere Quarantäne und Lazarette zur Unterbrechung von Infektionsketten genutzt. Auf die jüngste Pockenepidemie in Europa, als sich 1972 rund 200 Personen im Kosovo infizierten, reagierte der jugoslawische Staat unter anderem mit Straßensperren, Absperrung der betroffenen Orte und einem Verbot öffentlicher Versammlung. Von der angeordneten Quarantäne waren ungefähr 20 000 Menschen betroffen. (Vučković 2018) Auch aktuell werden in zahlreichen Ländern Maßnahmen zur Reduktion bzw. zur kontrollierbaren Gestaltung der Sozialkontakte umgesetzt.
Klaus Wolfram versucht sich an der Erklärung der aktuellen Unzufriedenheit zwischen vielen (ehemals) Westdeutschen und vielen (ehemals) Ostdeutschen. Er versucht es aus Sicht eines (marxistischen) Gesellschaftsarchitekten, der bereits vor dreißig Jahren am Willen der meisten seiner außerhalb Ostberlins lebenden Landsleute in der ehemaligen DDR scheiterte. Ich sage an dieser Stelle: Zum Glück!
Ich für meinen Teil wollte jedenfalls nicht länger mit den Gesellschaftsarchitekten in und außerhalb der SED in der größten DDR der Welt allein zu Hause bleiben. Und als Redner der Leipziger Montagsdemonstrationen 1989/90 spürte ich das sogar hautnah mit vielen anderen. Millionen Ostdeutscher, die damals die Straße für sich eroberten, wollten nach Nationalsozialismus und (realem) Sozialismus definitiv kein weiteres sozialistisches Großraumexperiment. Auf etwas anderes wäre es nicht hinausgelaufen, was Klaus Wolfram in seiner Rede Was war und zu welchem Ende kam die politische Energie der Ostdeutschen? vom 8. November 2019 (Iablis 2019) skizziert.
Drei Jahrzehnte nach dem großen Umbruch sollte man meinen, die tragenden Linien, die zu ihm führten und seine Form bestimmten, würden sichtbar werden, ins öffentliche Bewusstsein treten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bundesrepublik spinnt ihr altes Selbstgespräch über Ostdeutschland fort und fort – doch inzwischen hört dort niemand mehr zu. (...) Am Anfang steht ein ganz präzises Datum und sogar eine einzelne Person. Es ist der 10. September 1989, die Person heißt Bärbel Bohley. Ein Jahr lang hatte diese kleine Frau das Treffen von 30 Oppositionellen aus den 15 Bezirken der DDR vorbereitet, auf dem jetzt die Bürgerbewegung ›Neues Forum‹ gegründet wird. (Es war übrigens der Grundgedanke, sie jenseits der Kirche und außerhalb der Opposition zu verankern.) – Natürlich, ein solcher weltgeschichtlicher Wirbel, wie er sich nun im Herbst 1989 entfaltet, hat 100 Bedingungen und 1000 Randbedingungen – die Form des Handelns aber, in denen die Menschen agieren (werden), die wurde hier gesetzt...
Rede vor der Akademie der Künste. November 2019
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